Allein der Landesvater Baden-Württembergs und frühere Bahnhofsgegner Winfried Kretschmann kann das Gezerre um das Projekt Stuttgart 21 beenden – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Es war auf einer Balkanreise, im Jahre des Herrn 1999, als den frischgebackenen grünen Außenminister der Bundesrepublik Deutschland eine Art Damaskus-Blitz durchfuhr. Joschka Fischer, der damals das Elend der sich gegenseitig meuchelnden Menschen im ehemaligen Jugoslawien sah, wurde in diesem Moment vom Saulus zum Paulus, oder besser umgekehrt: vom Friedens-Paulus zum Kriegs-Saulus. Plötzlich trat er, der heimliche Vorsitzende der Ökopaxe – bis dahin selbst ausgewiesener Pazifist – für einen Nato-Einsatz mit deutscher Beteiligung ein, um das Gemetzel zu beenden. Dabei mag er an das einst von Heiner Geißler im Bundestag ausgerufene Credo gedacht haben: auch die Pazifisten, ob ihrer Zurückhaltung, seien an Auschwitz schuld gewesen. Dementsprechend begründete nun der grüne Zampano seinen Sinneswandel: nie wieder Auschwitz, nie wieder Faschismus. Ein Parteifeind knallte ihm daraufhin einen Farbbeutel aufs Ohr, und doch ließen sich seine Leute am Ende von ihm aus der Gefangenschaft der Ideologie herausführen.

 

Das war dann schon das zweite Mal, dass Joschka Fischer sie auf die Wirklichkeit verpflichtete. 1983, nachdem die Partei zum ersten Mal in den Bundestag eingezogen war und er den parlamentarischen Geschäftsführer spielen durfte, kämpfte er gegen Flausen wie das rollierende System. Später, von 1994 an, als Fraktionsvorsitzender, brachte er den Wandel der Antiparlamentspartei zur Regierungspartei voran. Das ist sein Verdienst.

Ein Kurswechsel gelingt nur, wenn die Zeit reif ist

Zwar bewegen sich die Dinge bisweilen von selbst. So im deutschen Osten, wo ein Wort, das zündendende Wir-sind-das-Volk, plötzlich unter den aufgewühlten Menschen war und die allen gemeinsamen Gefühle zum Ausdruck brachte. Aber oft braucht es doch einen, der ausspricht, was endlich vollzogen werden muss, der symbolisiert, was die Zeit inzwischen vorgibt, der mit seiner Kraft, seinen Talenten und seiner Karriere – auch mit einer möglichen Niederlage – dafür einsteht. Manchmal geht es sogar um Leben und Tod. In jedem Fall kann ein Kurswechsel in der Geschichte jedoch nur gelingen, wenn die Zeit wirklich reif ist.

Die Zeit war reif, als der geniale Mönch Martin Luther seine Thesen am Tor der Schlosskirche zu Wittenberg anschlug und öffentlich machte, wie es um die Kirche stand. Die Zeit war reif, als Michael Gorbatschow auf die Bühne der Weltpolitik trat. Hätte er nicht zu Glasnost und Perestroika aufgerufen, hätte er sich dem Westen nicht vertrauensvoll genähert, hätte er die russischen Panzer nicht in den Kasernen zurückgehalten, als die Bürger im deutschen Teil seines Reichs zu Hunderttausenden auf die Straße gingen – wir würden womöglich heute noch auf die Wiedervereinigung warten. Es braucht eben einen Menschen mit Charisma – Mann oder Frau –, der die Vergangenheit abschüttelt, der die Mauern einreißt.

Ein Reformator muss alte Gewohnheiten aufkündigen

Wunderbar, wenn es wie im Falle Deutschlands einer ist, der die Verhältnisse zum Guten wenden will. Es kann aber auch ein schwarzer Magier sein, der die Verhältnisse zum Bösen wendet, der wie im deutschen Schicksalsjahr 1933 auf dem breiten Weg in die Irrationalität, in einem Wahn vorangeht und die Massen mitzieht. Ohne Hitler wäre unsere Geschichte völlig anders verlaufen, ohne ihn hätte es keinen Holocaust und wahrscheinlich auch keinen Zweiten Weltkrieg gegeben.

Es muss freilich nicht immer gleich um die ganz großen Eruptionen der Weltgeschichte gehen. Auch in den weniger wichtigen Winkeln des Geschehens ist oft ein Reformator vonnöten, der befriedet, der sich traut, die lieb gewordenen Gewohnheiten aufzukündigen und zu sagen, was gesagt werden muss, obwohl es diesem und jenem partout nicht gefällt. Hier und heute in unserem Ländle ist dem freundlichen Herrn Kretschmann diese Rolle aufgegeben. Er hat sie schon ein bisschen eingeübt, hat öffentlich bekannt, beim Bau des Stuttgarter Tiefbahnhofs gebe es kein Zurück mehr. Freilich, ausgerechnet für dieses Zurück haben die Leute ihn und seine Grünen gewählt. Und nun dies!

Kretschmann kann der Erretter sein

Aber nur der Mönch Luther konnte die Kirche reformieren, nur der Obergrüne Fischer erschien legitimiert, die Partei aus ihrem Abseits herauszuführen, nur der Kommunist Gorbatschow war imstande, den Eisernen Vorhang einzureißen. Und nur der ehemalige Bahnhofsgegner Kretschmann wird in der Lage sein, das Gezerre um Stuttgart 21 zu beenden. Nur ihm, dem grün verwurzelten und allgemein geachteten Landesvater wird man am Ende folgen, wenn er den Protest, der sich inzwischen selbst genügt, aus dem geliebten Ghetto herauslockt und mit der Wirklichkeit versöhnt.

Winfried Kretschmann muss den Gorbi machen. Er muss den Joschka geben. Er muss den Schmerzensmann spielen. Dafür werden sie auch ihm, um kurzfristiger Wahlerfolge oder des schieren Rechthabens willen, manchen Farbbeutel aufs Ohr klatschen. Sie werden ihn rädern, vierteilen, ans Kreuz schlagen und einen Verräter nennen. Er wird es aushalten und am Ende, nicht nur für die zerstrittenen Stuttgarter, ein Erretter sein.