235 Privatbürger aus dem Raum Stuttgart haben mit dem Reyerhof in Möhringen einen Vertrag geschlossen: Sie finanzieren den Hof mit und erhalten Gemüse, dürfen aber auch mitsprechen. Ein Pakt der beiden Seiten nutzt.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Landwirt Christoph Simpfendörfer ist ein gnädiger Mensch: In der Sonne ist es heute so unerträglich heiß, dass er seine Helfer von der Stuttgarter Gruppe der „Solidarischen Landwirtschaft“ (Solawis) schon nach einer halben Stunde von den flirrenden Feldern in die Kühle der nahen Apfelbäume ruft und den Arbeitseinsatz für beendet erklärt. Eigentlich hätten die gut zehn vorwiegend jungen Frauen und Männer das viele Unkraut zwischen den Salatköpfen heraushacken sollen, jetzt wird stattdessen Pause gemacht und über das Mittagessen sinniert. Wobei, Unkraut darf man sowieso nicht mehr sagen. Politisch korrekt heißt es bei Christoph Simpfendörfer jetzt: „Beikräuter regulieren“.

 

Es ist für Stuttgart ein neues und ungewöhnliches Projekt – die Solawis-Teilnehmer wollen weit mehr als sich nur wöchentlich eine Gemüsekiste sichern. Vielmehr haben die derzeit 235 Bürger mit dem Reyerhof in Möhringen einen Vertrag geschlossen – der Landwirt muss bestimmte Regeln einhalten, im Gegenzug hat er für ein ganzes Jahr Budgetsicherheit. Dass dies mehr als eine spinnerte Idee aus der ökologischen Ecke ist, zeigt zweierlei. Auf dem Reyerhof macht die Finanzierung durch Solawis mittlerweile ein stolzes Drittel des gesamten Etats aus. Und deutschlandweit gibt es schon mehr als 100 ähnliche Initiativen.

Und so funktioniert Solawis in Stuttgart. Immer im November kann jeder zu einer Versammlung kommen und dort einen oder mehrere Anteile für das nächste Jahr ersteigern; deren Wert lag zuletzt im Schnitt bei etwa 400 Euro. So sichert sich jeder das Recht, einmal in der Woche Lebensmittel vom Reyerhof zu erhalten – es gibt 14 Verteilpunkte in der Stadt, wo man seine Kiste abholt. Je nach Saison ist Unterschiedliches drin. Im Moment ist es dies: ein Pfund Kartoffeln, 800 Gramm rote Beete, einen Salat, 90 Gramm Zuckerschoten, zwei Kohlrabi oder zwei Blumenkohl sowie eine Gurke.

Die regionale Landwirtschaft soll gestärkt werden

Umgekehrt weiß Christoph Simpfendörfer schon vor Jahresbeginn, dass er mit festen Einnahmen in Höhe von zuletzt 94 000 Euro rechnen kann. Er muss sich also nicht mehr völlig dem Preisdruck des freien Marktes ausliefern, der gerade bei ökologisch erzeugten Lebensmittel immer stärker wird. Zudem hat er mit Solawis eine große Gruppe, die ihn dabei unterstützt, dass die regionale Erzeugung von Gemüse und Obst auch im Ballungsraum Stuttgart nicht untergeht.

Dafür muss sich Simpfendörfer allerdings deutlich in den Betrieb hineinreden lassen, denn die Solawis-Leute hatten vor zwei Jahren klare Vorstellungen, als sie auf den Reyerhof zugegangen waren. Lena Steinbuch, die aufgrund des Booms mittlerweile halbtags bei Solawis angestellt ist, zählt auf: die Arbeiter auf dem Reyerhof sollen fair bezahlt werden; die Solawis-Leute wollen eine Vielfalt an Lebensmittel, langer Transport und lange Lagerung sollen vermieden werden, und man möchte auch nicht, dass Lebensmittel verschwendet werden – kleine Kartoffeln oder krumme Gurken werden bei Solawis nicht wie im Supermarkt ausgemustert.

Nicht für jeden Bauern ist das Angebot attraktiv

Der Reyerhof konnte sich gut auf diese Bedingungen einlassen, denn als langjähriger Demeter-Betrieb mit mehreren Gesellschaftern waren die Inhaber solche demokratischen Prozesse schon gewöhnt: „Das passt sehr gut zu unserer Struktur“, sagt Simpfendörfer. Selbstverständlich ist das nicht – es gab durchaus Bauern, die das Angebot von Solawis abgelehnt haben.

Die Arbeitseinsätze auf dem Hof sind freiwillig

Die Motivation der Menschen, bei Solawis mitzumachen, ist ganz unterschiedlich. Alexandra Waldleitner aus Tübingen möchte die Landwirte dabei unterstützen, frei von ökonomischen Zwängen gute Lebensmittel anbauen zu können. Tom Knaffll hat eher einen volkswirtschaftlichen Blick: Er hofft, dass sich mit der Zeit ein neues wirtschaftliches Muster entwickelt. Und Lena Steinbuch hat sich im Supermarkt immer geärgert, dass sie Kartoffeln aus Israel und Äpfel aus Chile kaufen sollte: „Mir fehlte die Transparenz und die Regionalität“, sagt sie.

Bioprodukte möglichst günstig zu bekommen, war im Übrigen für fast niemanden ein Grund, bei Solawis mitzumachen. Lena Steinbuch beteuert, dass sie nie nachgerechnet hat, wie günstig oder teuer ihr Solawis-Anteil eigentlich ist. Im Gegenteil, einer der Leitsprüche lautet: „Wenn das Gemüse seinen Preis verliert, gewinnt es seinen Wert zurück.“ Steinbuch weiß gar nicht mehr, was ein Salat im Laden kostet.

Die Arbeitseinsätze auf dem Reyerhof müssen neue Mitglieder übrigens nicht fürchten. Erstens sind sie freiwillig, und zweitens haben sie weniger das Ziel, Christoph Simpfendörfer Arbeit abzunehmen. „Es geht vielmehr darum, die ökologische Landwirtschaft besser kennenzulernen“, sagt Steinbuch. Tatsächlich hat Christoph Simpfendörfer viel Arbeit schon erledigt; er war schon morgens um vier Uhr zum Hacken auf dem Feld. „Da waren die Temperaturen noch angenehm“, lacht er.