Das soziale Netz Stuttgarts sei toll, sagt Heinz Gerstlauer. 23 Jahre lang hat er als Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Gesellschaft daran mitgeknüpft, im Interview enthüllt er ein Geheimnis.

Stuttgart - Seit 1995 war er Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Gesellschaft: Jetzt geht der 1952 in Geislingen/Steige geborene Heinz Gerstlauer in den Ruhestand.

 
Herr Gerstlauer, der Evangelischen Gesellschaft (Eva) wurde früher unterstellt, sie bilde mit der Caritas eine Sozialmafia in Stuttgart. Kränkt Sie das?
Wir sind natürlich große, komplexe kirchliche Träger. Dass wir in politischen Gremien Positionen und Interessen vertreten, ist selbstverständlich. Dass unsere Angebote so gewachsen sind, war aber keine Wachstumsstrategie oder Absicht. Das kam daher, dass wir Notlagen sehen und adäquate Antworten finden.
Mehr Angebote, mehr Dienststellen – ist die Arbeit schwieriger geworden?
Sie ist anders geworden. Soziale Arbeit war früher Sache der Stadt und der gemeinnützigen Wohlfahrtseinrichtungen. Mit Einführung der Pflegeversicherung wurden private, ertragsorientierte Anbieter auf dem Markt zugelassen. Damit war klar, dass eine Ökonomisierung eintritt und die Politik das Marktmodell auch im Sozialbereich einführen wird.
War das richtig?
Das hatte Vor- und Nachteile. Wenn Wettbewerb dazu führt, dass man bessere Angebote macht oder Kundenwünsche besser betrachtet, ist diese Entwicklung wunderbar. Wenn sie aber dazu führt, dass Träger ökonomisch riskante Kurse fahren oder nur noch das machen, was bezahlt wird, ist das von Nachteil. In bestimmten Bereichen ist gewiss ein undurchdringlicher Dschungel entstanden, aber der Nutzer kann wählen. Ich befürworte die Wahlfreiheit. Ich halte nichts von Monopolen. Bei uns können selbst Wohnungslose zwischen drei Mahlzeiten zum gleichen Preis wählen.
In den Hilfen zur Erziehung beispielsweise ist das aber anders.
Stuttgart hat auf diesem Feld den Markt abgeschafft. Die Stadt sagt: Die Versorgung der Menschen im Sozialraum hat Vorrang vorm Wettbewerb. Die Gefahr, sich als Träger in seinem Sozialraum bequem einzurichten, ist da. Ich erlebe das aber nicht so. Die Leute bei uns und im Jugendamt sind an guter Qualität interessiert. Und es gibt den Vergleich.
Keine Konkurrenz? Wie komfortabel!
Wir sind nicht im Wettbewerb, aber im Gegenzug habe ich eine Versorgungsverpflichtung auch dann, wenn am Wochenende eine sechsköpfige Familie in meinem Sozialraum auftaucht. Die Stadt hingegen ist damit entlastet, sie muss nicht erst nach einem Träger suchen, der Verantwortung übernimmt.
In Fachausschüssen des Gemeinderats reden Sie gern Tacheles. Sehen Sie Ihre Anliegen dort genügend beachtet?
Grundsätzlich ist das Verhältnis zu Politik und Verwaltung gut, das zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man, ohne abgestraft zu werden – und das könnte die Stadt ja –, andere Positionen vertreten darf. Es ist nicht immer konfliktfrei, denn ich vertrete ja nicht nur Positionen, sondern auch die Interessen der Wohlfahrt. Ich mag keine falschen Harmonien. Ich will’s wissen. Ich will klar Kante zeigen.
Wie sozial ist Stuttgart?
Was in Stuttgart läuft, ist wirklich toll und kann sich weit, weit sehen lassen. Aber es braucht dauerhaftes Engagement. Und eine Haltung. Die Stadt Stuttgart ist natürlich unser Geldgeber, aber nicht unser Auftraggeber. Auftraggeber sind der Herr Jesus und die Bibel. Wenn ich durch diese Stadt gehe und Menschen in Not sehe, habe ich einen Auftrag. Sozialwirtschaft ist halt äußerst komplex. In den öffentlichen Diskussionen vermisse ich öfter die nötige Fachlichkeit. In der Vergangenheit gab es einige Leute, die in diesen Dingen gut waren und Position bezogen haben. Ich sehe diese Kompetenz leider schwinden, gelegentlich vermisse ich ein scharfes sozialpolitisches Profil in der Kommunalpolitik.
Wo stehen neue Herausforderungen an?
An Schulen – die bekamen durch Inklusion und Ganztag eine Bedeutung, die sie bis 2010 nicht hatten. Aus einem Lernort wird ein Lebensort. Ich brauche dort Bildungspädagogik, Freizeitpädagogik, Gruppenpädagogik, sozialräumliche Zuschnitte. Und bei Wohnungslosen – gerade hier an der Hospitalkirche fragen wir uns: Welche Aufgabe haben wir in diesem gentrifizierten Viertel? Als wir gefragt wurden, ob wir ein paar blaue Stühle spenden wollen, haben wir uns entschieden, stattdessen eine Parkbank aufzustellen als Symbol für den Schlafplatz von Obdachlosen und als Kontrapunkt zum Abbau öffentlicher Bänke in Bahnhöfen und Einkaufsstraßen. Unsere Leute, die sich darauf ausruhen, haben alle so ihre Geheimnisse. Deshalb steht „Bank-Geheimnis“ drauf. Gutverdienende Anwohner verstehen darunter natürlich etwas anderes.
Sie sind Pfarrer und Ökonom. War Ihre Berufswahl richtig?
Meine Eltern wollten, dass ich Steuerberater oder Dachdecker werde. Ich wollte Theologie studieren. Das wollte mein Vater nur erlauben, wenn’s nix kostet. Am Ende bekam ich ein Stipendium am Evangelischen Stift in Tübingen, und beim Einzug ins Stift, auf der Fahrt von Reutlingen hinunter nach Tübingen, hätte ich platzen können vor Stolz. Eine Stelle bei der Eva, einem Unternehmen, das sich nicht an der Gewinnmaximierung, sondern an der Nutzenmaximierung ausrichtet und gleichwohl keine Behörde ist, das war und ist ein Traumjob.
Sie gehören dem Beirat der Forschungsstelle Glücksspiel der Uni Hohenheim an. Wie kam’s?
Ich habe berufsbegleitend meine Masterarbeit an der Universität Eichstätt geschrieben über die möglichen Auswirkungen der Liberalisierung von Sportwetten im Hinblick auf die Sucht in Deutschland. Die Eva betreute damals nicht nur notorische Spieler, sondern auch die Anbieter. Aus Sicht von anderen sind wir damals einen „Pakt mit dem Teufel“ eingegangen, zuerst mit Toto-Lotto, dann mit der Spielbank Baden-Württemberg, und entwickeln seither Sozialkonzepte für Spieleanbieter.
Waren Sie selbst jemals in einem Casino?
Ja, klar. Es war faszinierend. Ich liebe fremde Milieus. Deshalb gehe ich auch ins Leonhardsviertel, in eine Fabrik oder rede mit Gewalttätern. Wenn Sie Menschen verstehen wollen, dürfen Sie nicht nur im eigenen Saft schmoren.
Haben Sie ein Spielchen gemacht?
Glücksspiel hat mich nie gefährdet. Einer Brezel und einem Viertele Wein hingegen könnte ich nur schwer widerstehen.
Was hilft Ihnen, angesichts sozialer Miseren das Gleichgewicht zu halten?
Meine professionelle Distanz, die Kollegen, meine Familie, meine Frömmigkeit. Auch wenn man für viele Menschen nichts ändern kann, kann man sie zumindest begleiten. Nicht davonlaufen, das halte ich für wahnsinnig wichtig.
Sie waren verantwortlich für einen Jahresumsatz von 60 bis 70 Millionen Euro inklusive 3 Millionen Euro Spenden. Wie ist das, nur noch die eigene Rente zu verwalten?
Verwalten? Ich werde sie ausgeben!