Mit einem vergleichsweise schwachen Ergebnis gewinnt Andrea Nahles die Kampfabstimmung um den SPD-Parteivorsitz. In ihrer Rede erklärt Nahles, was sie unter Erneuerung versteht.

Wiesbaden - Simone Langes Fans verteilen zu Beginn des SPD-Parteitags Pappschilder an die Gäste. Weiße Schrift auf rotem Grund: „Wählt neu, wählt Simone“. Oder für jene, die es ausformulierter mögen: „Liebe Delegierte, ihr könnt heute Geschichte schreiben, wählt Simone Lange.“ Genau genommen machen das die Delegierten im Rhein-Main-Congress-Center in Wiesbaden so oder so: Geschichte schreiben. Denn egal ob sie Andrea Nahles oder die Außenseiterin Simone Lange zur Parteichefin wählen: Erstmals wird an diesem Sonntag eine Frau an die Spitze der SPD gewählt. Aber nicht mal das kann die Stimmung heben.

 

Die Delegierten entscheiden, ob sie Wut, Enttäuschung und Frust freien Lauf lassen oder kühler Überlegung. Und weil an Frust in der SPD kein Mangel ist, an rationalem Kalkül dagegen schon, sind sie sich in der Parteiführung am Abend vor der Abstimmung alles andere als sicher, ob die Partei nach dem spektakulären Absturz des Bruchpiloten Martin Schulz durchstarten und endlich wieder etwas an Höhe gewinnen kann. Der Sturm der Lange-Unterstützer in den sozialen Netzwerken war von der Nahles-Truppe in seiner Wirkung schwer einzuschätzen. Und auch ohne Gegenkandidaten hat Nahles in ihrem früheren Leben als Generalsekretärin oder Vizechefin magere Ergebnisse eingefahren. Ihre Kraft hat sie aus ihrem Talent bezogen, draufzuhauen, zu polarisieren. Man war für sie oder ihr Gegner. Jetzt muss ausgerechnet sie die Partei zusammenführen. Nicht, dass an einem Sieg der Favoritin gezweifelt wurde. Aber ein besseres Ergebnis als 66,35 Prozent hätte es sein sollen. Die Last, die Nahles schultern muss, sei schon schwer genug.

Man verständigte sich auf jeweils 30 Minuten Redezeit

Vor diesem Hintergrund ist Olaf Scholz in der Rolle des Einpeitschers keine sonderlich gute Wahl. Aber er war nun mal seit dem Rücktritt von Martin Schulz kommissarischer Vorsitzender, und deshalb schickt es sich so. Gewohnt sperrig in der Wortwahl lobt er eine neu gewonnene Geschlossenheit, die es nicht gibt, was ein großes Banner mit der Aufschrift „Hartz IV abschaffen“, das während seiner Rede ausgerollt wird, ganz gut dokumentiert. Er lobt den furiosen Wahlkampf von Martin Schulz, die angeblich grandiose Leistung der Minister in der großen Koalition bis 2013, und man fragt sich, weshalb die Partei eigentlich nicht mit absoluter Mehrheit die Richtung vorgibt. Wenigstens ist die Rede kurz, da kann der Vizekanzler Nahles nicht allzu viel kaputt machen.

Es ist die erste Kampfkandidatur um den Parteivorsitz, seitdem Rudolf Scharping 1995 auf dem Mannheimer Parteitag Oskar Lafontaine unterlag. Deshalb hat sich die Parteitagsregie viele Gedanken darüber gemacht, das Verfahren so zu gestalten, dass Lange keine Gelegenheit hat, sich als Opfer darzustellen. Sie hatte in den vergangenen Tagen mehrfach dem Vorstand unfaire Machenschaften unterstellt. Also verständigte man sich auf jeweils 30 Minuten Redezeit und ein überaus kompliziertes Regelwerk für die anschließende Fragerunde. Fehlte nur noch die Ziehung der Fragen unter notarieller Aufsicht. Das Misstrauen von „denen da unten“ gegen „die da oben“ sitzt in der SPD unfassbar tief.

Lange darf beginnen, das Alphabet entscheidet. Sie tritt auf in strahlendem Rot. Kaum einer kennt sie, und sie versucht, ebendies als Chance zu nutzen. Lange präsentiert sich als Projektionsfläche, meidet das Konkrete, weckt Sehnsüchte. Gut möglich, dass beim Entwurf der Rede Barack Obama ein wenig Pate stand, der es wie kaum ein anderer verstand, Hoffnungen zu wecken. Mit dem Unterschied natürlich, dass Lange nicht ein ganzes Land zu Füßen liegen wird – und auch nicht dieser Parteitag. Wenig Applaus brandet auf, bei den Delegierten will sich offenbar vorsichtshalber keiner erwischen lassen. Der Beifall kommt vornehmlich aus der Gästekurve. Dort, wo Langes Fanclub Pappschilder schwenkt.

Lange verspricht soziale Wohltaten, will sich für Hartz IV entschuldigen

Es fehle „an Teamspiel, an Offenheit und an Glaubwürdigkeit“ in der SPD, sagt Lange. Es dürfe nicht mehr der „Genossen Sachzwang“ das Heft in der Hand haben. Schluss mit der „Zahlensklaverei, raus aus der Selbstlähmung“. Um voranzukommen, bietet sie ihre Erfahrung an. Was insofern bemerkenswert ist, als dass dies der heftigste Einwand ihrer Gegner ist: die fehlende Erfahrung. Kriminalbeamtin, ein paar Jahre Kieler Landtag, seit gut einem Jahr Oberbürgermeisterin in Flensburg: Ihre Gegner glauben nicht, dass die 41-Jährige gebürtige Thüringerin schon über den Werkzeugkasten verfügt, der notwendig ist, die womöglich komplizierteste Partei Deutschlands nach erlittenem Totalschaden zu reparieren.

Lange blinkt nach links, verspricht soziale Wohltaten, will sich für Hartz IV entschuldigen, den Teufelskreis der schleichenden Entstaatlichung durchbrechen, weg mit der schwarzen Null. Stattdessen fordert sie „einen roten Fußabdruck in der Finanzpolitik“. Nur 16 Minuten redet die Flensburgerin, was seltsam ist, weil sie sich eigentlich beklagt hatte, kurz gehalten zu werden. Zu mehr reicht es offenbar noch nicht an programmatischer Grundierung.

Mit der Wahl werde endgültig die gläserne Decke in der SPD durchbrochen

Nahles wird schnell persönlich. Die Tochter eines Maurers erinnert an ihre Kindheit in der Eifel, an ein Mädchen, ein Arbeiterkind in einer erzkatholischen Gegend. Es sei „nicht unbedingt logisch, dass ich heute hier stehe“, sagt sie. Ihre Mutter sei extra gekommen, sagt Nahles: „Hallo Mama.“ Auch die habe sich wohl kaum vorstellen können, dass ihre Tochter diese Chance bekommen würde. Mit der Wahl werde endgültig die gläserne Decke in der SPD durchbrochen, die Frauen den Weg an die Parteispitze bisher verwehrte. „Nutzt die SPD, eure Freiheit zu leben, hier ist der Ort, das zu tun“, ruft sie. Ein emotionaler Moment. Ein Augenblick, in dem auch ihre Gegner kein Gift mischen können.

Aber sie ist nun mal auch die Frau, die mithalf, ihre Partei abermals in eine große Koalition zu zwingen. Und das als ehemalige Parteilinke. Eine Ex-Juso-Vorsitzende, die ihre Partei der Union erneut ans Messer geliefert habe – so sehen es jedenfalls jene, die ihr deshalb Verrat vorwerfen. Und selbst die gemäßigten Kritiker grübeln, wie sie als Fraktionschefin den Koalitionsfriede wahren und als Parteichefin zugleich das reine Licht der Sozialdemokratie wieder erstrahlen lassen kann. Sie begegnet dem Misstrauen mit Zuversicht: „Man kann eine Partei in der Regierung erneuern“, sagt sie. Wie das gehen soll, wird dennoch nicht ganz klar.

Nahles meidet pralles Vokabular, lässt sich zu keinem „Bätschi“ hinreißen

Aber immerhin versucht sie zu erklären, was sie unter Erneuerung versteht. Die SPD habe im Wahlkampf zwar „gesagt, was unser Ziel ist, aber wir haben nicht gesagt, wie wir es erreichen wollen“. Es sei höchste Zeit, den Weg zu benennen, zu erklären, was Solidarität „in der turbodigitalisierten Welt“ bedeute. Die SPD müsse einen klaren Ordnungsrahmen für die digitale, globale Wirtschaft entwerfen: „Diese Regeln müssen erst noch erfunden werden, und wer, wenn nicht wir, sollte das tun.“

Sie meidet pralles Vokabular, lässt sich zu keinem „Bätschi“ und keinem „auf die Fresse“ hinreißen. Der einzige Fauxpas, der ihr unterläuft, ist ihre Antwort auf Frage, welches Arbeiterlied ihr das liebste sei. „Brüder zur Freiheit, zur Sonne“, sagt sie. Richtig ist: anders rum. Franz Müntefering, den Arbeiterliederpapst der SPD, dürfte in diesem Moment in der ersten Reihe schier der Schlag treffen. Aber kraftmeiernd kommt Nahles nicht mehr daher. Sie will sich das künftig verkneifen, feilt an ihrem Auftritt, der Parteivorsitz soll nicht das Ende sein. „Hausfrau oder Bundeskanzlerin“ wolle sie werden, hat sie in der Abizeitung ihres Schuljahrgangs geschrieben. Hausfrau hat schon mal nicht geklappt.