Obwohl die Abstimmung erst in einigen Monaten ansteht, diskutiert der Bundestag über die Sterbehilfe. Eindrücke von einer emotionalen und kontroversen Debatte – deren Argumentationslinien quer durch die Parteien verlaufen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Immer wieder wird ein Bild beschworen, das einem Horrorfilm zu entstammen scheint. Einem Horrorfilm, der noch auf keiner Leinwand zu sehen war, von dem aber viele erzählen, als hätten sie den Schrecken lebendig vor Augen. Der Schriftsteller Franz Kafka könnte sich dieses Bild ausgedacht haben. Es geht um eine Tür. Eine Tür zwischen Leben und Tod. Eine Tür, die das Leben von einem bösen Sterben trennt. Eine Tür, die nicht mehr zu schließen ist, wenn sie einmal aufgestoßen wurde, und sei es auch nur einen Spalt weit. Hinter dieser Tür soll sich eine schiefe Ebene befinden, die steil bergab ins Verderben führt. Noch ist diese Tür geschlossen, aber wenn man sie öffnet, dann könnten Menschen gezwungen werden, hindurchzugehen, auch wenn sie das nicht wollten.

 

In diesem Bild, von dem im Protokoll der 66. Sitzung des Deutschen Bundestags immer wieder zu lesen sein wird, verdichten sich sämtliche Vorurteile, Klischees und Ängste, die an dem Thema kleben, über das hier am Donnerstag gesprochen wird. Auf der Tagesordnung heißt das Stichwort: „Sterbebegleitung“. Doch das ist ein beschönigendes Wort. Es klingt nicht so brüsk wie Sterbehilfe. Darum geht es eigentlich. Vier Stunden und zwanzig Minuten hat sich das Parlament dafür Zeit genommen.

„Der Tod saß mit am Tisch“

„Krankheit und Tod saßen bei uns zu Hause immer mit am Tisch“, erzählt der Christdemokrat Michael Brand. Als er zur Welt kam, litt der Vater an Krebs. Einige Jahre waren ihm noch vergönnt. Es ist eine von vielen ganz persönlichen Tragödien, die an diesem Donnerstag zu hören sind. Nicht immer wird ein Zusammenhang mit der jeweiligen Argumentation deutlich – es sei denn, dass solche Geschichten den eigenen Worten Gewicht verleihen sollen.

Die Gruppe um Peter Hintze plädiert für die Hilfe von Ärzten. Foto: dpa

Brand ist der Erste, der über jene Tür spricht, die ein Sinnbild für das sein könnte, was hier in Paragrafen zu fassen ist. Die einen wollen diese Tür zusperren, fest verschließen, möglichst verbarrikadieren. Zu ihnen zählt der 40-jährige CDU-Abgeordnete aus Fulda. „Was wir unter gar keinen Umständen wollen, ist eine Tür, die wir nicht mehr zubekommen“, sagt er, „durch die am Ende Menschen durchgeschoben werden, die das gar nicht wollen.“ Bei der Sterbehilfe sei es so: „Angebot schafft Nachfrage.“ Brand mahnt: „Wer diese Tür auch nur einen Spalt breit öffnen hilft, der wird sie nicht mehr schließen können.“

„Ich habe es so satt.“ Diese Klage ihres Vaters hat sich in das Gedächtnis von Petra Sitte eingebrannt. Auch die Linkspolitikerin erzählt von einem persönlichen Schicksal. Ihr Vater sei dement gewesen, habe unter Schmerzen gelitten. „In den weniger werdenden lichten Momenten war er tief unglücklich“, sagt Sitte. Solche Ohnmacht und Hilflosigkeit „soll niemand erleben müssen“. Deshalb will sie ärztliche Hilfe beim Suizid ausdrücklich erlauben und Sterbehilfevereine nur dann verbieten, wenn sie kommerzielle Zwecke verfolgten.

Der lange Morgen dieses Plenartages ist spannender, eindrucksvoller als manche spektakuläre Redeschlacht. Dabei kommt die Politprominenz kaum zu Wort. Am Mikrofon wechseln sich Gesichter ab, die allenfalls Leute im eigenen Wahlkreis kennen. Das Thema betrifft jeden. Und fast jeder, der über Sitz und Stimme verfügt, will mitreden. Die knapp viereinhalb Stunden reichen nicht aus, um alle sprechen zu lassen. Manche müssen ihre Beiträge schriftlich zu Protokoll geben. Es ist eine durchaus kontroverse Debatte, die Gegensätze deutlich macht, aber keinen Streit entfacht. Selten erlebt das Bundestagsplenum solche Stunden, in denen tatsächlich ein Dialog stattfindet, in denen Rednern jeglicher Couleur Respekt widerfährt, in denen man sich wirklich zuhört – und nicht nur, um in einem geeigneten Moment höhnische Zwischenrufe loswerden zu können.

Abstimmung erst in einigen Monaten

Zu beschließen gibt es zunächst einmal gar nichts. Eine Abstimmung ist erst in einigen Monaten vorgesehen. Doch es geht um „das vielleicht anspruchsvollste Gesetzgebungsprojekt dieser Legislaturperiode“, sagt Norbert Lammert, der Präsident des Bundestags. Zu klären sei, „wo zwischen individueller Selbstbestimmung und ärztlicher Verantwortung Regelungsbedarf besteht“. Damit markiert Lammert die Pole, zwischen denen die Debatte hin und her schwingt. Regelungsbedarf sehen eigentlich alle. Aber es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen, was zu regeln sei.

Der Christdemokrat Franz Josef Jung vertritt sehr glaubensfeste, beinahe fundamentalistische Ansichten. Er nennt es schlichtweg „verfassungswidrig“, wenn Ärzte beim Freitod behilflich sind. Der frühere Minister hat wohl überhört oder schlichtweg ignoriert, was die Grüne Renate Künast zu sagen hatte. „Wir sollten der Versuchung widerstehen, unseren Glauben ins Strafgesetzbuch zu schreiben“, mahnt sie. Die aktuelle Rechtslage, nach der sowohl Selbstmord als auch die Beihilfe dazu straffrei sind, sei „klüger“ als manches, was hier diskutiert werde. Wie ein Staatsanwalt beim Plädoyer argumentiert auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann. Nach seinem liberalen Rechtsverständnis, so bekundet er, „steht es dem Gesetzgeber nicht zu, Menschen in solchen existenziellen Situationen Vorschriften zu machen.“

Predigen kann Hintze noch immer

Es ist lange her, dass Peter Hintze regelmäßig auf einer Kanzel stand. 1980 bis 1983 war er Pastor in Königswinter. Das Predigen hat der CDU-Mann nicht verlernt – zum Leidwesen vieler Parteifreunde. Hintze vertritt bei diesem Thema Ansichten, die in der Union nicht mehrheitsfähig sind. Er argumentiert dabei aber so bibelfest, dass es schwer wird, Sterbehilfe zu verteufeln. In seiner Rede zitiert er die Offenbarung des Johannes. Dort ist davon die Rede, dass „kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz“ mehr herrschen dürften. Das sei „eine große biblische Hoffnung“. Dabei klingt der ehemalige Pfarrer fast wie ein Existenzialist: „Leiden ist immer sinnlos.“

Hintze kommt auch auf die viel beschworene Tür zu sprechen, welche die meisten seiner Kollegen aus den C-Parteien fest verriegeln wollen. Derlei Vorbehalte verrieten nichts als ein tiefes Misstrauen gegen Ärzte und gegen die Menschen überhaupt. Vorbehalte „gegen uns selbst“, so formuliert das Hintze. Der protestantische CDU-Mann betont: Er hege ein anderes Menschenbild und „brauche keinen paternalistischen Staat“.

Der Staat ist an diesem Tag spärlich vertreten. An der Regierungsbank bleibt ausgerechnet der Sessel mit der höchsten Lehne leer. Es ist der Platz der Bundeskanzlerin. Die hält sich gerade am anderen Ende der Welt auf: bei einem Treffen der mächtigsten Regierungschefs in Australien.

An sich kommt ihr die im Bundestag verhandelte Debatte nicht ungelegen. Die CDU-Chefin Merkel tritt in Sachen Sterbehilfe für restriktive Positionen ein. Das hat sie in der Vergangenheit mehrfach kundgetan. Selbst in den eigenen Reihen glauben allerdings manche, dass diese moralische Strenge taktische Gründe haben könnte. Solche Themen bieten für die Union Gelegenheit, ihren konservativen Anstrich, der schon reichlich verblasst ist, zur Schau zu stellen. Leute wie Peter Hintze passen da jedoch nicht richtig ins Konzept.