Streik in der Metallindustrie Der Kampf Bleicher gegen Schleyer

Kontrahenten in vielen Tarifrunden: Hanns Martin Schleyer (links) und Willi Bleicher (rechts). Foto: dpa/Fritz Fischer

Im Dezember 1971 liefern sich der Gewerkschafter Willi Bleicher und der Wirtschaftsfunktionär Hanns Martin Schleyer einen harten Tarifkampf.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Zu den Klängen des Radetzky-Marsches betritt Willi Bleicher am 8. Dezember 1971 über eine schmale Holztreppe die Bühne. Es reicht ein Name, um die zigtausend Metallarbeiter, die sich auf dem Stuttgarter Karlsplatz versammelt haben, in Rage zu versetzen. „Hanns Martin Schleyer . . .“, ruft der Gewerkschaftsführer Bleicher, und die Masse reagiert mit einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert. „. . . Dr. Schleyer hat den Einigungsvorschlag abgelehnt!“

 

Willi Bleicher, geboren 1907 in Bad Cannstatt, ist vom Leben gestählt. Mit 20 schaffte er als Hilfsarbeiter beim Daimler in der Gießerei. Mit 30 war er als Kommunist im KZ Buchenwald interniert. Mit 40 wurde er hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär. Mit 50 stand er an die Spitze der IG Metall im Land. Nun ist er 64 und weiß, dass es der letzte Lohnkampf ist, den er in seinem Tarifbezirk Nordwürttemberg/Nordbaden führen wird.

Sein Gegenspieler heißt Hanns Martin Schleyer: Sohn eines Amtsrichters, promovierter Jurist, ehemaliger SS-Offizier, Daimler-Vorstandsmitglied, Spitzenfunktionär des Verbandes der Metallindustrie Baden-Württemberg. Die zwei Männer kennen sich aus diversen Lohnrunden. Öffentlich beschimpft man sich als „linken Radikalinski“ beziehungsweise „gierigen Kapitalisten“, aber bei den Gesprächen in Hinterzimmern respektiert man sich. Schleyer und Bleicher wissen, dass sie den Zusagen des anderen vertrauen können. Am Ende der – oft nächtlichen und alkoholreichen – Verhandlungen gibt es einen Kompromiss, einen Händedruck und ein Lächeln für die Kameras.

Gescheiterte Schlichtungsversuche

Viele Jahre läuft das Spiel der Tarifpartner nach diesen ungeschriebenen Regeln. Doch 1971 ist plötzlich alles anders: Schleyer hält die Zeit für gekommen, den Gewerkschaften Einhalt zu gebieten. Die IG Metall fordert elf Prozent mehr Lohn, die Arbeitgeber bieten viereinhalb – was trotz brummender Wirtschaft nicht einmal die Inflationsrate ausgleichen würde. Im Spätsommer und Herbst 71 scheitern mehrere Schlichtungsversuche an Schleyers starrer Haltung. Schließlich hat Willi Bleicher die Faxen dicke und verkündet: „Jetzt kann man für die Arbeitgeber kein Verständnis mehr haben. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir diesen Kampf gewinnen!“

Am 12. November sprechen sich 89,6 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für Streiks aus. Zehn Tage später legen 115 000 Beschäftigte bei Daimler-Benz und 78 weiteren baden-württembergischen Betrieben die Arbeit nieder. Die Unternehmer reagieren am 26. November mit einer flächendeckenden Aussperrung von 300 000 Arbeitnehmern. So wollen sie die Wut der Nichtorganisierten auf die Gewerkschaft schüren. Willi Bleicher tobt: „Um uns zu treffen, werden Familienväter, Lehrlinge, Kriegsversehrte und Schwangere um ihren Lohn gebracht.“

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Durch die Streiks und die Aussperrungen in württembergischen Zulieferbetrieben fehlen wenige Tage später auch an anderen Orten Fertigungsteile. Nicht nur die Bänder bei Daimler-Benz in Sindelfingen stehen nun still, sondern auch bei VW in Wolfsburg, Opel in Bochum und BMW in München. Zum ersten Mal droht ein Arbeitskampf, den wichtigsten bundesdeutschen Industriezweig komplett lahmzulegen.

Um ein ökonomisches Desaster abzuwenden, schaltet sich der Bundeskanzler Willy Brandt persönlich ein. Am 7. Dezember bittet der Bonner Regierungschef die Kontrahenten Bleicher und Schleyer zu sich ins Palais Schaumburg. Schleyer, der davon überzeugt ist, dass die Forderungen der IG Metall überhöht sind, fragt: „Herr Bundeskanzler, ist die Stabilität noch vorrangiges Ziel der Regierung?“ Brandt antwortet: „Natürlich. Aber wir müssen auch noch auf andere Dinge Rücksicht nehmen.“

Schnell wird klar, dass das CDU-Mitglied Schleyer nicht gewillt ist, dem Sozialdemokraten Brandt zu einem weiteren politischen Erfolg zu verhelfen. Das Vermittlungsgespräch endet ergebnislos. Am nächsten Morgen fliegt Willy Brandt nach Oslo, wo ihm der Friedensnobelpreis für seine Ostpolitik verliehen wird. Zeitgleich lässt Willi Bleicher in Stuttgart den Arbeitskampf eskalieren.

Sonderzüge mit Metallarbeitern

Am Vormittag des 8. Dezember kommen 20 überfüllte Sonderzüge mit Metallarbeitern am Hauptbahnhof an. 125 Omnibusse dirigiert die Polizei auf extra ausgewiesene Parkplätze am Rand des Unteren Schlossgartens. Dann bewegt sich der bis dato größte Demonstrationszug der Nachkriegszeit durch die Innenstadt. An seiner Spitze läuft Willi Bleicher. Die Demonstranten skandieren: „Haut den Bossen auf die Flossen!“ und „Hi, ha, ho, Schleyer ist k. o.!“ Auf Transparenten beschwören sie ihre unbefristete Streikbereitschaft: „So lang der Arsch in die Hose paßt, wird keine Arbeit angefaßt.“

Bei der Großkundgebung am Karlsplatz ist der begnadete Redner Will Bleicher in seinem Element. Nicht die Unternehmer hätten nach dem Zweiten Weltkrieg das Wirtschaftswunder vollbracht, ruft er mit bebender Stimme ins Mikrofon, „sondern ihr, die Arbeitnehmer!“ Und wenn die Industriellen glaubten, ihn zum Aufgeben zwingen zu können, würden sie ihr blaues Wunder erleben: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten!“

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Franz Fürst ist einer von rund 45 000 Demonstranten, die an diesem Tag auf dem Karlsplatz stehen. Fürst, Bevollmächtigter der IG Metall in Pforzheim, kennt Bleicher seit 1961 und zählt zu dessen engsten Vertrauten. „Ich habe von Willi viel gelernt, ja – er war für mich ein strenger Lehrmeister“, sagt er rückblickend. „Alle Zusammentreffen mit ihm waren für mich gesellschaftspolitische Lehrstunden.“

Fürst ist mittlerweile 90 Jahre alt. Nach einem Herzinfarkt im Sommer versucht er, wieder einigermaßen ins Leben zurückzufinden. „Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das beste“, klagt er am Telefon – und schwelgt dann mühelos in Erinnerungen.

Im Herbst 71 sitzen die württembergischen IG-Metall-Funktionäre oft bis tief nachts in der Kellerschenke des Stuttgarter Gewerkschaftshauses. Bleicher ist ihr Wortführer. „Es gibt keine kleinen Leute, es gibt nur Menschen, die andere klein machen“, sagt er – oder: „Macht nie den Fehler, dass ihr ausgehend von eurem Bewusstseinsgrad Schlussfolgerungen zieht auf das Bewusstsein der anderen.“ Streik ist für Bleicher eine Kunst, „die taktisch, emotional und intellektuell beherrscht muss“. Die Aussperrung der Arbeiter durch die Unternehmer nennt er, der ehemalige KZ-Häftling, „den totalen Krieg gegen die Metaller dieses Landes“. „Willi Bleichers Auftreten und seine Reden haben mich fasziniert“, erzählt Franz Fürst. „Sein Kampfgeist war beeindruckend. Es war uns klar, dass er am Ende seiner Gewerkschaftszeit niemals kleinbeigeben würde.“

Der falsche Zeitpunkt für den Konfrontationskurs

Nach der Stuttgarter Großkundgebung ist auch Hanns Martin Schleyer bewusst, dass er den falschen Zeitpunkt für seinen Konfrontationskurs gewählt hat. Noch während die Demonstranten den Heimweg antreten, treffen sich die Spitzen der Tarifparteien im Hotel Graf Zeppelin zu einer neuen Verhandlungsrunde. 30 Stunden später, am 15. Streiktag und elften Tag der Aussperrung, treten Schleyer und Bleicher gemeinsam ins Blitzlichtgewitter und verkünden, dass man sich geeinigt habe: Für das Jahr 1972 werden die Löhne und Gehälter um 7,5 Prozent erhöht. Zudem wird bis 1974 stufenweise ein 13. Monatsgehalt und ein Weihnachtsgeld für alle Beschäftigten der Metallindustrie eingeführt. Das „Stuttgarter Modell“, wie diese Vereinbarung fortan bezeichnet wird, wird in den folgenden Wochen bundesweit in allen Tarifbezirken übernommen.

Es ist die letzte Schlacht, die der alte Klassenkämpfer Willi Bleicher geschlagen hat. Im Oktober 72 verabschiedet er sich in den Ruhestand. Seinen Lebensabend verbringt er in seinem Häusle im Cannstatter Primelesweg mit Frau Anneliese, Dackel Struppi und Gartenarbeit. Wenn ihn seine alten Weggefährten von der IG Metall besuchen, beklagt er, dass sich die Gewerkschaften mittlerweile viel zu sehr mit ihrer Rolle im System abgefunden hätten, anstatt wie er die Welt zum Bessern verändern zu wollen: „Die Krise gehört zum Kapitalismus wie die Nacht zum Tage.“

Am 23. Juni 1981 stirbt Willi Bleicher. Als er auf dem Steinhaldenfriedhof beerdigt wird, ruht in den meisten Metallbetrieben des Landes um 11 Uhr die Arbeit. Das Stuttgarter Gewerkschaftshaus trägt bis heute seinen Namen.

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