Wegen des Sturms "Irene" herrscht Ausnahmezustand in New York. Doch nach 9/11 bringt die Bürger so schnell nichts mehr aus der Fassung.

New York - Am frühen Sonntagmorgen herrscht am oberen Broadway in Harlem, von ein paar übrig gebliebenen Nachtschwärmern abgesehen, gewöhnlich auch nicht gerade Hochbetrieb. Doch an diesem Sonntag früh um sieben ist es gespenstisch zwischen der 125. und der 155. Straße. Alle paar Minuten fährt ein einsames Taxi durch den dicken schweren Regen, der jetzt schon knöcheltief auf der Straße steht. Ein paar vereinzelte Gestalten drängen sich mit einem Kaffee in der Hand unter die Markisen vergitterter Geschäfte. Selbst die kleinen Gemischtwarenläden an jeder Ecke, die sonst immer geöffnet haben, sind dunkel.

 

Nur Fedel an der 151. Straße lässt sich vom Wirbelsturm Irene nicht beeindrucken. Eine knappe Stunde, bevor das Zentrum des Sturms über Manhattan fegen soll, kocht der jemenitische Krämer wie gewohnt für seine Kunden Kaffee und schmiert Kräuterquark auf die frisch gebackenen Bagels. "Bis jetzt ist doch alles nicht so schlimm", sagt er. "Ich glaube, dass die Medien und die Politiker alle unheimlich übertrieben haben."

Tatsächlich schien es Sonntag früh so, als würde Manhattan bei seiner ersten Begegnung mit einem ausgewachsenen Hurrikan seit mehr als 100 Jahren glimpflich davonkommen. Die Sturmgeschwindigkeit hatte während der Passage von Irene über das Festland von South Carolina, Maryland und Delaware deutlich an Kraft eingebüßt, wo er Millionen von Haushalte ohne Strom hinterlassen hatte. Anders als weiter im Süden, war es bis auf gelegentliche Böen in New York jedoch beinahe unheimlich still. Zu hören war nur das beständige Platschen des schweren Regens, der nun schon beinahe 24 Stunden lang auf Fensterbänke und außen liegende Klimaanlagen tropfte.

Sorgen wegen Überschwemmungen

So war Sonntag früh die größte Angst der New Yorker nicht mehr so sehr der direkte Schaden durch die Winde, die wesentlich schwächer als die angekündigten 120 Stundenkilometer waren. Wesentlich mehr Sorgen machte sich die Stadt vor Überschwemmungen. Sowohl der East River als auch der Hudson, welche die Insel von Manhattan umspülen, waren gefährlich nahe an die Ufer getreten. Im unteren Manhattan, wo die Wohnsiedlung Battery Park weit in den Fluss hineinreicht, fing der Hudson an, auf die Straße zu schwappen. Erste Wohnungen in Flussnähe standen bereits unter Wasser. Ebenso im Osten der Insel, in der Gegend des historischen Seehafens an der South Street. Die Elektrizitätsgesellschaft Con Edison kündigte an, im Fall einer Überschwemmung für das ganze Viertel rund um den Finanzdistrikt den Strom abzuschalten, um größere Schäden für ihr Netz zu vermeiden.

Wegen der Flutgefahr hatte Bürgermeister Bloomberg schon am Samstag zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Zum ersten Mal in der Stadtgeschichte ließ er ganze Viertel evakuieren. 370.000 Bürger in Gebieten, die nahe am Wasser liegen, mussten sich für das Wochenende eine andere Bleibe suchen. Auch der gesamte öffentliche Nahverkehr wurde in Manhattan zum ersten Mal geschlossen. Von Samstagmittag an musste sich die Stadt, in der täglich sechs Millionen Menschen die U-Bahn benutzen, komplett auf Taxis und eigene Autos verlassen oder zu Fuß gehen. In seiner Pressekonferenz bat der Bürgermeister eindringlich, Irene ernst zu nehmen: "Ich kann es gar nicht genug betonen. Die Natur ist stärker als wir", sagte er. "Seien Sie lieber jetzt sicher als nachher reuig."

New Yorker legen Gelassenheit an den Tag

Die New Yorker folgten in der großen Mehrheit den Anweisungen und Empfehlungen ihres Bürgermeisters. Die Evakuierungen gingen ohne größere Proteste vonstatten. Am Samstag bereitete man sich gewissenhaft darauf vor, es sich längere Zeit in der Wohnung gemütlich zu machen, notfalls auch ohne Strom. Die Supermärkte waren verstopft, in einigen Läden wie dem Westside Market nahe der Columbia University standen die Menschen Schlange, um überhaupt in den Laden hineinzukommen. Doch die New Yorker legten eine erstaunliche Gelassenheit an den Tag. Man wartete ruhig ab, bis man dran war, es gab kein Geschiebe und kein Gedränge.

In den Haushaltswarengeschäften waren schon am Freitagabend die Taschenlampen ausverkauft. Batterien, die man für die meisten Kleingeräte benötigt, waren am Samstag in der ganzen Stadt nicht mehr zu bekommen. New York machte sich routiniert für einen Blackout bereit. Man kennt das hier - 2004 fiel für mehrere Tage der Strom in der ganzen Stadt aus.

In Panik geriet dabei jedoch kaum jemand. Nach dem 11. September 2001 kann so ein Hurrikan die New Yorker nicht aus der Fassung bringen. "Das hier spielt nicht einmal annähernd in derselben Liga wie 9/11", sagte am Samstagabend der Rechtsanwalt David Christman bei einem gemütlichen Dinner mit der erweiterten Familie in seiner Wohnung an der West End Avenue.

"Die Leute zahlen heute viel für ein Taxi"

Christman hatte wie alle New Yorker eine batteriebetriebene Laterne eingekauft, für den Fall des Stromausfalls seine Badewanne voll Wasser laufen lassen und Lebensmittel für mehrere Tage gebunkert. Angst hatte er jedoch nicht im Geringsten. Im Gegenteil, nach dem Dinner ging er mit seinem Hund, seiner kleinen Tochter und seiner Nichte hinunter an den Fluss, um zu schauen, wie sich so ein Hurrikan anfühlt. Eine halbe Stunde später kamen sie alle durchnässt, aber glücklich zurück. Für die Kinder war es ein Riesenspaß.

Der Rest des Abends wurde in der Hauptsache vor dem Fernseher zugebracht, unterbrochen von ständigen ironischen Kommentaren zur apokalyptischen Berichterstattung auf allen Kanälen.

Auch der Taxifahrer Chiranjib Naht, der in Queens lebt, lässt sich von dem Hurrikan Irene nicht aus der Ruhe bringen. Als er sieben Jahre alt war, berichtet er, während er auf dem Highway entlang des Hudson durch knietiefe Pfützen brettert, habe ihn in Bangladesh ein Zyklon aus seiner Bambushütte gerissen. Seine Mutter musste ihn damals festhalten, damit der kleine Junge nicht fortgeblasen wurde. Das würde Irene nicht zustande bringen, da ist er sich ganz sicher. Deshalb hat er auch vor, den ganzen Tag zu arbeiten. "Das ist ein gutes Geschäft. Die Leute zahlen heute viel für ein Taxi."