Aktenfunde belegen, dass sich bereits die Regierung von Günther Oettinger (CDU) bei der Berechnung der Kosten von S 21 von der Bahn massiv übergangen fühlte.

Stuttgart - Die Stirn des Ministerpräsidenten kräuselte sich noch stärker, als man es ohnehin von Winfried Kretschmann gewohnt ist. Trotzig reckte er das Kinn vor, als er die "normative Kraft des Faktischen" beschwor, die ihn beim Bau des Tiefbahnhofs wider Willen dazu zwingen könnte, doch noch weiteres Geld zuzuschießen für das Projekt, wenn die vereinbarten 4,5 Milliarden Euro nicht reichten und der Kostendeckel gelupft werden sollte. Nicht jetzt, aber in absehbarer Zeit. "Wer will schon riskieren, dass er eine riesige Baustelle mitten in der Stadt liegen lässt", fragte Kretschmann in die Runde. "In eine solche Situation lasse ich mich sehenden Auges nicht bringen."

 

Das war vor zwei Wochen. Auf einer Pressekonferenz verlangte der Regierungschef von der Bahn eine Erklärung, in der sie sich verpflichten soll, für alle Kosten einzustehen, die jenseits des Betrags von 4,5 Milliarden Euro liegen. Die Dramatik, die Kretschmann bei dieser Gelegenheit in Mimik und Stimme legte, war natürlich mit einem Kalkül unterlegt. Zumindest für die Gegner des Projekts ist die Kostenfrage in der Stuttgart-21-Frage die entscheidende Frage. Kretschmann spielt diese Karte, auch wenn er weiß, dass es für den Fall der Kostensteigerung in der Finanzierungsvereinbarung eine Regelung gibt - die etwas dunkle Sprechklausel, die besagt, dass Gespräche aufgenommen werden, wenn 4,5 Milliarden Euro nicht reichen.

Doch Kretschmann ist kein Schauspieler. Ein hochrangiger CDU-Mann sagte neulich über den Regierungschef, er trage schwer an der Verantwortung, die das Amt mit sich bringe. Jeder könne es sehen. Das war positiv gemeint. Der CDU-Mann zog den Vergleich zu Kretschmanns Vorgänger Stefan Mappus, der Verantwortung nur für sich selbst empfunden habe.

Der Verdacht, dass die Kosten doch aus dem Ruder laufen könnten, speist sich aus jahrelangen Erfahrungen mit der Bahn. Nicht nur die Stuttgart-21-Gegner kennen sie, auch Kretschmanns Vorgänger Günther Oettinger könnte einiges darüber berichten, wenn er denn wollte. So heißt es in einem Vermerk vom 9. November 2009, den der damalige Ministerpräsident zur Vorbereitung eines Gesprächs mit Bahnchef Rüdiger Grube erhielt: "Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass - sollte im Laufe des Bauablaufs die Grenze von 4,52 Milliarden Euro überschritten sein - finanzielle Forderungen auf das Land zukommen können."

Oettinger hatte das Projekt zu neuem Leben erweckt

Ein halbes Jahr zuvor hatten Oettinger, Grube und der damalige Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) die Finanzierungsvereinbarung zu Stuttgart 21 und die Neubaustrecke nach Ulm unterzeichnet. Nun war man im Herbst 2009 an einem kritischen Punkt angekommen. Bis Ende des Jahres konnte das Projekt noch gestoppt werden. Die Verträge sahen neue Verhandlungen vor für den Fall, dass nach Abschluss der Entwurfsplanung neue Kosten jenseits der vereinbarten Risikosumme auftauchen sollten. Dies galt bis 31. Dezember 2009.

Oettinger wollte Stuttgart 21. Er hatte das Projekt im Stadium des Scheintodes übernommen und zu neuem Leben erweckt. Oettinger stand zu dem Projekt, aber er hatte es auch forciert, um nach dem Desaster der Trauerrede auf Hans Filbinger zwei Jahre zuvor, die ihn an den Rand des Amtsverlusts gebracht hatte, wieder auf die Beine zu kommen. Doch nun bekamen die Kosten Flügel. Der Vermerk vom 9. November 2009 rekurriert auf die dem Land vorgelegten Kostenberechnungen der Entwurfsplanung, die sich auf knapp 4,9 Milliarden Euro summierten (4,066 Milliarden Euro Baukosten und 809 Millionen Euro Planungskosten). Bei der Prüfung stellten die Fachleute des Landes fest: "Noch immer sind die Unterlagen nicht vollständig. Insbesondere im Bereich der Kostenermittlung weist die Entwurfsplanung Mängel auf. Zahlen lassen sich nicht nachvollziehen." Oettinger liest in der Akte: "Die DB macht uns die Prüfung so schwierig wie nur möglich. Von einer konstruktiven Zusammenarbeit kann leider keine Rede sein. Das Verhalten der DB lässt sich zwischen Dienst nach Vorschrift und Obstruktion (Behinderung - die Red.) einordnen."

Das war wenige Tage, nachdem die Beamten im Innenministerium ihren Alarmruf vom 6. November 2009 verfasst hatten: "Eine Kostensteigerung um ca. eine Milliarde Euro binnen 8 Monaten nach Abschluss des Finanzierungsvertrags ist in der Öffentlichkeit kaum kommunizierbar. (...) Die DB wird erklären müssen, wie es zu dieser Kostenexplosion kam. Ihre bisherigen Verlautbarungen, Stuttgart 21 sei das 'bestgeplante Projekt Deutschlands', hat sie selbst ad absurdum geführt." Bahnchef Grube, so forderten die Beamten schon damals, müsse "verdeutlicht werden, dass er keine weiteren Zugeständnisse des Landes erwarten kann". Denn der Stuttgarter Ministerialbürokratie schwante: "Die uns vorliegenden Zahlen und Ankündigungen der DB AG machen deutlich, dass der Risikofonds bereits zum jetzigen Zeitpunkt weitgehend ausgereizt ist." Bei einem Projektabbruch werde das Land aber keine Zahlungen leisten, "sondern vielmehr Schadenersatz verlangen".

Beamte beklagten sich über die Bahn

Am 10. November 2009 beklagten sich die Beamten erneut über die Bahn. Die Entwurfsplanung liege seit Ende Oktober "nahezu vollständig, aber nicht vertragsgemäß" vor. Insgesamt liege die Entwurfsplanung bei knapp 4,8 Milliarden Euro. Der Grund seien die massiven Kostensteigerungen in den Tunnelabschnitten. Pikanterweise stammten die dem Innenministerium zugeleiteten Unterlagen, in denen sich die hohen Kostensteigerungen zeigten, aus dem November 2008. Woraus die Beamten messerscharf schlossen: "Dies legt den Schluss nahe, dass der DB - anders als dem Land - beim Abschluss des Finanzierungsvertrags (2. April 2009) bereits bekannt war, dass im Tunnelbau mit deutliche höheren Kosten zu rechnen ist!" Zwei Tage später, am 12. November 2009, sprach sich der Regierungschef Oettinger dennoch dafür aus, die im Innenministerium erstellten Berechnungen, nach denen Stuttgart 21 mindestens 4,9 Milliarden Euro, wahrscheinlich aber mehr kosten werde, nicht aktiv in die Öffentlichkeit zu tragen. Das berichtete jüngst der "Spiegel".

Dabei hatten die Beamten schon am 5. Dezember 2008 (Preisstand damals: knapp 3,1 Milliarden Euro) in einer Notiz für Oettinger geschrieben: "Empfehlung: Herr Mehdorn (der damalige Bahnchef) muss Herrn Azer (der damalige Bauleiter) einnorden'." Die Entwurfplanung solle die aktuelle Kostenmarke nicht überschreiten. "Sehr große politische Sprengkraft. Denn: Neue Kostendiskussion vor Baubeginn; Gegner werden Parallelen zum Transrapid behaupten und den Eindruck vermitteln, dass weder Land noch DB die Kosten des Projekts im Griff hätten. Die Unterstützer geraten weiter unter Druck, insbesondere die SPD, aber auch die eigene Fraktion in der Fläche." In einem undatierten Vermerk zum Verfahrensstand wird auf die damals in den Entwurfsplanungen erkennbaren Kostensteigerungen für drei Planabschnitte hingewiesen. Für den Hauptbahnhof beliefen sie sich auf 29,3 Prozent, bei der Filderauffahrt 137,2 Prozent, bei der Wangener Kurve: 138,4 Prozent.

Am 9. Oktober 2009 schlugen Oettingers Mitarbeiter im Staatsministerium in einer Notiz an den Ministerpräsidenten vor, Wolfgang Drexler, den damalige Projektsprecher und SPD-Politiker, direkt über die Regierungszentrale oder das Innenministerium "zeitnah, detailliert und aus erster Hand" zu informieren - "schon um das Vertrauensverhältnis nicht zu belasten". In der Notiz kündigten die Beamten an, dass die Entwurfsplanung den im Finanzierungsvertrag vereinbarten Preis inklusive Risikozuschlag "vermutlich deutlich übersteigen" werde. Die Prognose liege bei etwa fünf Milliarden Euro. Allerdings sehe die Bahn eine Reihe von Optimierungsmöglichkeiten, etwa mittels einer "Modifizierung der Tunnelstärke". Die Höhe des "optimierten Betrags" sei offen, werde aber tendenziell in der Nähe es durch die Risikovorsorge abgesicherten Betrags von 4,5 Milliarden Euro liegen. So kam es dann ja auch.

Allerdings sahen die Beamten ein Problem: Wenn die Bahn zunächst die wahren Kosten jenseits 4,5 Milliarden Euro verkünde und dann die Einsparungen, "werden zwei unterschiedliche Zahlen in der Welt sein, die uns unter Kommunikationszwang setzen". Wenige Tage später, am 14. Oktober 2009 konkretisierten die Beamten diese Angaben. Das Projekt verteure sich, Einsparungen aber seien möglich. Das Innenministerium und das Staatsministerium würden "Vorschläge erarbeiten, wie das Land kommunikativ auf die selbst im "optimierten" Fall noch sehr hohen Kostenschätzungen der Bahn reagieren" könne.

Am 7. Dezember 2009 monierten die Beamten in einem neuerlichen Vermerk weitere Verstöße der Bahn gegen Abmachungen und stellten fest, der Verhandlungsspielraum des Landes gegenüber der Deutschen Bahn sei noch nicht ausgereizt. "Die uns vertraulich vorliegenden Aufsichtsratsunterlagen belegen, dass das Projekt für die Bahn bis zu 4,769 Milliarden Euro wirtschaftlich wäre."

Günther Oettinger debattiert an diesem Sonntag um 16 Uhr mit dem Tübinger OB Boris Palmer über Stuttgart 21. Die Badische Zeitung überträgt die Diskussion in Freiburg von 16 Uhr an live.