Es war die wohl schönste Straßenbahnstrecke in Europa: Bis 1987 fuhren der Fünfer und der Sechser auf der Neuen Weinsteige – mit bester Sicht auf die Stadt. Leserinnen und Leser des Stuttgart-Albums erinnern sich.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Heute sieht man triste Wände an einem vorbeiflitzen, wenn man mit der Stadtbahn von den Filderhöhen in die City fährt. Wer in der Gelben einen kurzen Blick auf den Kessel erhaschen will, muss auf der Hut sein, um das Aussichtsloch nicht zu verpassen. Fast 37 Jahre sind’s her, dass der Sechser und der Fünfer – diese Linien verkehrten damals dort – in die parallel verlaufende Tunnelröhre verbannt worden sind.

 

Den Vergleich mit San Francisco hört man oft. Erst dieser Tage hat eine US-Bloggerin auf TikTok wenig schmeichelhaft Stuttgart als „verwahrlostes San Francisco“ bezeichnet. Stuttgart und die kalifornische Metropole haben eine imposante Gemeinsamkeit: steile Aufstiege und traumhafte Aussichten. 282 Meter hoch ist der höchste Hügel der Weltstadt an der amerikanischen Westküste – unser Degerloch liegt 448 Meter über dem Meeresspiegel. Um Weinberge zu sehen, fahren die Besucher von San Francisco ins Nappa Valley – bei uns wachsen die Reben mitten in der Stadt.

Stuttgart besitzt gleich zwei befahrbare Weinsteigen. Der extrem steile Weg der Alten Weinsteige wurde 1350 erstmals erwähnt. Bis zu 16 Pferde brauchte man, um den Berg zu bewältigen. Weil manche Pferdefuhrwerke den Aufstieg nicht schafften, fasste der württembergische König Wilhelm I. im Jahr 1822 einen Beschluss. Er beauftragte seinen Oberbaurat Eberhard von Etzel, die Residenzstadt an die südlich gelegenen und damals noch selbstständigen Gemeinden über eine breite Panoramastraße anzubinden. Nach jahrelangen Bauarbeiten wurde die Neue Weinsteige am 23. Oktober 1831 eröffnet.

Da von 1904 an auch Straßenbahnen auf ihr fuhren und immer mehr Autos die Pferde ersetzten, hat man die Steige in den 1930ern deutlich verbreitert. Damals hieß sie noch nach dem königlichen Auftraggeber Wilhelmstraße und kam erst 1946 zu ihrem heutigen Namen.

Als Pionierleistung der Ingenieurkunst rühmte man die Steige, deren Bau mit 76 000 Gulden als sehr teuer galt. Bis 1922 verlangte die Stadt Zoll- und Pflastergeld. Heute denken manche Politiker aus ökologischen Gründen über eine City-Maut nach – früher gab es mal eine Zeit, da wurde man auch ohne Luftschadstoffe zur Kasse gebeten.

„I muss die Stroßabahna kriega“, sang Wolle Kriwanek in den 1980ern, „nur der Fünfer bringt mi hoim.“ Der Fünfer führte von Stammheim in die Stadt, dann hinauf nach Degerloch und endete in Möhringen. Die Ära der traumhaften Aussicht endete am 25. September 1987.

Ein historischer Tag

Für die Stadt ist dieser Tag ein historisches Datum. Damals mussten der Fünfer und auch der Sechser in der Tunnelröhre verschwinden. Die Neue Weinsteige gehörte nur noch den Autos – oder Radfahrern, die das Risiko lieben. Thomas Mack, ein eifriger Bildgeber des Stuttgart-Albums, wundert sich noch immer: „Warum hat man an diesem historischen Tag die Bahnen nicht mit Fähnchen geschmückt?“

Bei seinen Fotos von der letzten Straßenbahnfahrt auf der Weinsteige erfasst etliche Kommentatoren des Facebook-Forums unseres Stuttgart-Albums Wehmut. „Ach, war das schön – jeden Morgen bin ich auf dieser Strecke zur Arbeit in die Stadt gefahren und hab’ das damals noch genossen“, findet Bärbel Böhm. Und in einem anderen Kommentar heißt es: „Die Straßenbahn, die ja längst Stadtbahn heißt, in den Tunnel zu verlegen, war ein Fehler – aus touristischer Sicht. Die kurzen Ausblicke auf die City können für die lange Genussstrecke aus früheren Zeiten nicht entschädigen.“

Wenn Bus und Strampe gleichzeitig auf der Weinsteige fuhren, wurde es eng

Elke Wallace schreibt im Internet-Portal unseres Geschichtsprojekts: „Ich liebe diese Erinnerungen! Beste Panoramastrecke mit der Straßenbahn, zur Schule und zur Ausbildung bis 1987. So eine tolle Aussicht immer!“ Und auch wenn die Bahn jetzt schneller in die Stadt fährt, so vermisse ich diese Aussicht immer noch.“ Udo Becker erinnert sich ganz genau, wie eng es oft auf der Neuen Weinsteige zuging – er war Busfahrer auf dieser Strecke: „Parallelfahrten zur Strampe waren immer recht spannend und kosteten den einen oder anderen Spiegel gerne mal das ,Leben‘.“

Daniela Schmidt schreibt: „Ich erinnere mich gerne an die Zeit dieser wunderschönen Straßenbahnlinien. Wer das heute haben möchte, muss Zacke fahren. Da kommen ein kleines bisschen 70er- und 80er-Flair und viele schöne Erinnerungen auf. Aber ersetzen kann dieser Ausblick die Fahrten in Strampe auf der Neuen Weinsteige nicht.“

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