Die Bewohner der Flüwo-Gebäude an der Straifstraße in Stuttgart-Degerloch machen sich Sorgen. Die Häuser sollen abgerissen und neu gebaut werden. Vor allem bei den älteren Mietern lösen diese Pläne Existenzängste aus.
Degerloch - Alles hat seinen Platz in der Wohnung von Mary Schwarz. Sie führt durch die Räume, zeigt dieses und jenes. Eigentlich hat sie nur eine Botschaft: Sie hat es sich nett gemacht in ihrer Wohnung, und sie will nicht weg. Ihrer Nachbarin Olessya Dik geht es ähnlich. „Ich habe noch nie so wenig Probleme mit Schimmel gehabt wie hier. Und dann sagen sie uns, die Gebäude sind in einem schlechten Zustand“, sagt Dik.
Ende März haben Schwarz und Dik bei einer Mitgliederversammlung der Flüwo erfahren, dass die Wohnungsbaugenossenschaft die drei Gebäude mit ihren 76 Wohnungen durch Neubauten ersetzen will. Die Häuser stammen aus den 1950er-Jahren, die Bausubstanz sei aus heutiger Sicht veraltet, wurde den Bewohnern mitgeteilt. „Sie haben uns dann gesagt, dass wir in drei bis vier Jahren raus müssen“, erzählt Mary Schwarz.
Viele Bewohner haben auf der Liste unterschrieben
Schwarz und Dik klingelten nach der Versammlung in den drei Gebäuden an der Straifstraße 11, 15, 17 an den Türen ihrer Nachbarn. Dik holt Papierbögen mit Unterschriften aus ihrer Tasche und legt sie auf den Tisch. Es ist ein ganzer Stapel. Sie schätzt, dass die Hälfte aller Bewohner ihre Signatur auf die Liste gegen den Abriss der Gebäude gesetzt haben.
Die beiden Mieterinnen haben bei ihren Gesprächen mit den geschätzt zu einem Drittel über 65 Jahre alten Bewohnern wohl auch jene Argumente verwendet, die sie nun vorbringen: „Ich will keine modernere Wohnung, ich will sie bezahlen können“, sagt Schwarz. Der Satz könnte als Slogan auf einem Protestplakat stehen. Aber Schwarz kann die Forderung anhand ihrer eigenen Situation erläutern. Sie erzählt, dass sie 1983 aus der damaligen DDR nach Westdeutschland umgesiedelt sei. Aufgrund einer Krankheit musste sie früher in den Ruhestand gehen. „Wenn die Flüwo uns etwas Moderneres anbietet, bedeutet das auch, dass es teurer wird. Das Geld müsste ich mir vom Staat holen. Ich will aber nicht aufs Amt“, sagt Schwarz.
Olessya Dik fürchtet, dass sie und ihre Familie aus Degerloch weg müssen. Sollte sie dann eine höhere Miete zahlen müssen, müsste sie einen weiteren Job annehmen, sagt sie. Dennoch fordern die Frauen nicht, dass die Flüwo, ihre Neubaupläne aufgibt. Sie wollen, dass sich die Flüwo mehr Zeit lässt. „In zehn Jahren leben viele der älteren Mieter nicht mehr. Für die Älteren ist ein Umzug unzumutbar“, sagt Schwarz.
Flüwo sichert den Mietern Hilfe zu
Die Flüwo erläutert ihre Pläne in einer schriftlichen Mitteilung. Darin erklärt sie, dass ein Abriss – anders als es Dik und Schwarz bei der Mitgliederversammlung gehört haben wollen – nicht bereits in drei bis vier Jahren anstehe, sondern erst 2022 oder 2023. Die Flüwo sichere den Mietern zu, bei künftigen Umzügen auch finanziell zu helfen. „Oftmals überwiegt letztendlich die Freude über eine moderne oder neuwertigere Wohnung“, heißt es in dem Schreiben. Die Flüwo wolle mit jedem Mieter eine Lösung finden, versichert die Baugenossenschaft. Freiwerdende Wohnungen im Bestand würden den betroffenen Mietern künftig bevorzugt angeboten, heißt es. Zu einem Neubau gebe es aber keine Alternative. Eine Sanierung sei zu teuer und würde gleichfalls einen Auszug der Bewohner erfordern. Außerdem könne die Flüwo nur ihren sozialen Wohnungsbau beibehalten, wenn sie laufend den Bestand erneuere – also Wohnungen schaffe, die sie zu höheren Preisen vermietet kann, um so den Umsatz zu steigern.
Zehn Prozent der Mietwohnungen müssten nach dem Stuttgarter Innenentwicklungsmodell (SIM) für Sozialwohnungen reserviert werden, zehn Prozent für Wohnungen für mittlere Einkommen. „Dies ist im Zusammenspiel mit dem SIM wirtschaftlich nur möglich, wenn wir schon auf in unserem Bestand befindlichen Grundstücken bauen können“, heißt es in der Erklärung der Flüwo.
Mieter müssten Kündigung nicht in jedem Fall hinnehmen
Rolf Gaßmann, Landesvorsitzender des Mieterbunds, rät den Mietern, sich beraten zu lassen. Generell müssten solche Vorhaben differenziert betrachtet werden. „Auf der einen Seite wird neuer Wohnraum geschaffen, auf der anderen Seite geht es um höhere Gewinne“, sagt er. Entscheidend bei der Bewertung sei, ob die Gebäude tatsächlich nicht mehr erhaltenswert sind. Die Mieter müssten aber ihre Kündigung nicht in jedem Fall hinnehmen. Bei Härtefällen könnte vor Gericht ein Verbleib in der Wohnungen erstritten werden, meint er.
Die 82-jährige Marianne Propp überlegt sich, ob sie vor Gericht ziehen soll. Nach mehreren Operationen fiel sie vor einem Jahr ins Koma. Nun kann sie ihren Alltag nur noch mit der Hilfe von Pflegekräften bewältigen. Propp hat deshalb gemeinsam mit Schwarz und Dik bei der Mitgliederversammlung im März das Wort ergriffen. Sie erklärte der Versammlung, dass die Pläne für sie ein Lebensende in einer Pflegeeinrichtung bedeuten. Marianne Propp will deshalb gegen das Vorhaben der Baugenossenschaft kämpfen. „Die Flüwo bringt mich nicht ins Heim“, sagt sie.