Beim VfB beginnt am Montag Saison eins nach dem größten anzunehmenden Unfall . Wie sich der Club auf die ganz neue Situation vorbereitet hat.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Früher wurden die Absteiger so aus den Stadien der ersten Liga verabschiedet: „Ihr seid Deppen, spielt nächste Saison beim SV Meppen.“ In den Neunzigerjahren war der Club aus dem Emsland das Synonym für den grauen Zweitliga-Alltag und damit so etwas wie ein Schreckgespenst. Wer in den äußersten Nordwesten der Republik reisen musste, war in der sportlichen Bedeutungslosigkeit angekommen, so die landläufige wie bösartige Meinung vieler Fußballfans. Weil der SV Meppen mittlerweile sein Dasein in der Regionalliga Nord fristet, wurde der Titel des vermeintlich unattraktivsten Zweitligisten immer weiter vererbt. Zurzeit führt ihn der SV Sandhausen. Um das Spiel im Badischen noch abschreckender zu machen, sagen jetzt die Gehässigen: „Viel Spaß am Montagabend in Sandhausen.“

 

Beim VfB Stuttgart hat man den Satz mit den Schüsselwörtern „Sandhausen und Montagabend“ seit Mai unzählige Male gehört; genauer gesagt seit dem 14. Mai, als nach der 1:3-Niederlage in Wolfsburg das lange Zeit Undenkbare Realität geworden war: der VfB in der zweiten Liga. Jetzt geht es dort auch schon los, natürlich an einem Montag, aber nicht gegen den SV Sandhausen, sondern gegen den FC St. Pauli.

Sind Mannschaft, Vereinsführung und Fans richtig auf die zweite Liga eingestellt?

In Stuttgart hat eine neue Zeitrechnung begonnen: Saison eins nach dem größten anzunehmenden Unfall. Die große Frage lautet kurz vor dem Saisonstart, ob Mannschaft, Vereinsführung und Fans richtig auf die zweite Liga eingestellt sind?

Die Gefühlswelt von Team, Verantwortlichen und Umfeld treffen beim VfB regelmäßig eine Woche vor dem Ligaauftakt in der Mercedes-Benz-Arena direkt aufeinander. Diesmal wurde bei der Saisoneröffnungsparty aber vorsichtshalber auf ein Testspiel gegen einen namhaften Gegner verzichtet. Nahm doch bei dieser Gelegenheit im letzten Jahr das Unheil nach einem umjubelten Sieg seinen Lauf. Nach dem 4:2-Erfolg gegen Manchester City sahen praktisch alle Anwesenden eine großartige Erstliga-Saison auf den VfB zukommen. Stattdessen folgte aber der zweite Abstieg in der Vereinsgeschichte nach 1975.

Schlechte Erinnerungen an das Manchester-Spiel

Bei der diesjährigen Auftaktveranstaltung stehen nicht ein zufriedener Trainer Alexander Zorniger und ein stolzer Sportvorstand Robin Dutt auf dem Stadionrasen, sondern die Nachfolger Jos Luhukay und Jan Schindelmeiser, die den Karren aus dem Dreck ziehen sollen. Beide sind voll im Zweitliga-Modus, der auf ganz Stuttgart abfärben soll. Nicht ein Spurenelement von Überheblichkeit ist auszumachen, wenn sie beim Interview vor der Haupttribüne die 20 000 Fans auf die zweite Liga einstimmen. Die Rollenverteilung sieht so aus: Luhukay wiederholt gebetsmühlenartig, dass die Saison in der völlig neuen Umgebung „keine einfache Sache“ wird, während Schindelmeiser für den Schulterschluss mit den Anhängern zuständig ist. „Wenn wir Schwierigkeiten bekommen sollten, dann liegt das ganz bestimmt nicht an den Fans“, sagt er: „Es ist einfach nur eine große Geste und etwas Besonderes, wenn Leute in dieser schwierigen Phase eine Woche Urlaub nehmen, um uns ins Trainingslager zu begleiten.“

Und dann ist wieder Jos Luhukay an der Reihe. „Mehr denn je gilt in der zweiten Liga: Mentalität schlägt Qualität.“ Dementsprechend hat der Trainer die neuen Spieler ausgesucht, die zum Teil alte Bekannte von ihm sind: Hajime Hosogai zum Beispiel. Die Botschaft hinter diesem Transfer: Mit Schönspielerei steigt niemand auf. Gefragt sind unermüdliche Kämpfer wie der kleine Japaner, der von Hertha BSC nach Stuttgart gewechselt ist.

Beim VfB Stuttgart soll nicht von oben herabgeschaut werden, sondern nach oben hinauf – in die erste Liga: das ist das einzige Ziel. „Aber kein Selbstläufer“, wie Luhukay sagt. Mit ihm haben Bodenständigkeit und Pragmatismus beim VfB Einzug gehalten, wo zuvor auch noch in der Krise vom internationalen Wettbewerb geträumt wurde. Und nun? Der Trainer verordnet eine brutale Erdung nach den gedanklichen Höhenflügen der Vergangenheit. Luhukay kommt dabei zugute, dass er eine hohe Glaubwürdigkeit besitzt, hat er doch schon Borussia Mönchengladbach, den FC Augsburg und Hertha BSC aus den Untiefen der zweiten Liga nach oben geführt. „Es kann sehr gut sein, dass wir einen holprigen Start erwischen und nicht von Anfang an vorne mitspielen“, sagt er. So war das damals auch bei der Hertha, die einige Anlaufschwierigkeiten in der zweiten Liga hatte.

Die Fans freuen sich auch – auf andere Stadien zum Beispiel

Damit bloß keiner in Stuttgart wieder auf falsche Gedanken kommt, fand das letzte Testspiel vor dem Saisonstart im bescheidenen Rahmen statt: in Weinstadt, wo der neue Konkurrent Fürth 3:1 geschlagen wurde. Zweite Liga ist eben nicht Glamour. Zweite Liga ist Simon Terodde. Der VfB-Neuzugang sorgt nicht für Showelemente, wie die abgewanderten Daniel Didavi und Filip Kostic, sondern für Tore. 66 Treffer hat der 28-Jährige in den vergangenen beiden Spielzeiten für den VfL Bochum erzielt. Simon Terodde und Jos Luhukay wissen, wie man im Unterhaus erfolgreich ist. Dieser Erfahrungsschatz stimmt die Stuttgarter Fans zuversichtlich.

„Vorsichtig optimistisch“, so beschreibt Andreas Göz kurz vor dem Saisonstart seinen Gemütszustand in Bezug auf den VfB. Der Mann vom „Fanclub Filder“, der in Vaihingen den VfB-Treff „Maulwurf“ betreibt, freut sich auf „Fußball pur in Liga zwei“, wie er sagt: „Mal wieder in echte Stadien zu reisen und nicht in irgendwelche Tempel an der Autobahn, hat für uns einen Reiz. Kaiserslautern, St. Pauli, Union Berlin oder Bochum – das ist doch etwas anderes als Hoffenheim.“ Außerdem hoffe er endlich einmal wieder Heimspiele in der festen Annahme besuchen zu dürfen, dass die im Normalfall auch gewonnen werden. Fans wie Andreas Göz suchen so etwas wie ein Grundvertrauen zum VfB und hoffen, dass sie es in der zweiten Liga endlich wieder zurückbekommen.

Bisher wurden 27 000 Dauerkarten verkauft

Gleichzeitig geben die Anhänger ihrem Club einen großen Vertrauensvorschuss mit auf den Weg in Liga zwei. Mit bisher 27 000 verkauften Dauerkarten könnte der Wert des Vorjahres (29 500) im Laufe der Hinrunde möglicherweise sogar noch übertroffen werden. Für das Spiel am Montag gegen St. Pauli sind bereits 54 000 Karten weg. Gut möglich also, dass der Saisonauftakt in der 60 000 Zuschauer fassenden Mercedes-Benz-Arena ausverkauft ist. Mit 47 120 hat die Zahl der VfB-Mitglieder schon jetzt einen historischen Höchststand erreicht. „Diese Zahlen spiegeln den großen Zuspruch wider, den wir gerade erfahren“, sagt der Vereinssprecher Tobias Herwerth und ergänzt, dass kein Sponsor abgesprungen sei. Ebenso gebe es auch keinen Einbruch, was das Interesse überregionaler Medien angehe. Stattdessen konzentriert sich aufgrund des späteren Erstligastarts gerade sehr viel auf den VfB.

Der VfB nimmt in der zweiten Liga eine Sonderrolle ein. „Gegen uns werden alle Mannschaften alles geben, um zu gewinnen“, sagt Jos Luhukay. Als Bestätigung ist eine Umfrage des Fachmagazins „Kicker“ zu werten, in der alle Zweitligatrainer den VfB Stuttgart als Topfavoriten auf den Aufstieg nennen. Nur einer sieht den zweiten Absteiger, Hannover 96, am Ende ganz vorne in der Tabelle: Jos Luhukay.