In Stuttgart haben am Dienstagabend rund 300 Menschen öffentlich der Opfer des verheerenden Erdbebens in der Türkei und in Syrien vor einem Jahr gedacht. Es war eine Gedenkstunde mit großen Emotionen.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Wenn Serkan Eren, Gründer der Stuttgarter Hilfsorganisation Stelp, von seinen Einsätzen in Krisen- und Katastrophengebieten spricht, dann ist das – bei aller Überlegung, die hinter diesem Engagement steckt – stets Emotion pur. Besonders wenn er von seinem Einsatz im Südosten der Türkei berichtet, wo die verheerenden Erdbeben vom 6. Februar 2023 eine tiefe Zäsur im Leben Hunderttausender Menschen bewirkten. „Mein schlimmster Einsatz überhaupt“, sagt Eren mit stockender Stimme: „Es waren apokalyptische Zustände. Die völlige Zerstörung.“

 

Eren, Kopf und Herz von Stelp, steht am Dienstagabend auf einer kleinen Bühne auf dem Stuttgarter Schlossplatz und spricht zu rund 300 Menschen, die sich am Jahrestag der Naturkatastrophe zu einer Gedenkfeier versammelt haben. Eingeladen hat der türkische Verein Mesnet (zu deutsch „Solidarität“), und viele andere haben sich angeschlossen – von der Türkischen Gemeinde bis zum Deutsch-Türkischen Forum.

„Es gibt eine Zeit vor dem Erdbeben und ein Danach.“

Eren kehrt in Gedanken zurück an jenen 6. Februar, als er nachts die ersten Nachrichten aus der Türkei erhielt und wenige Stunden später im Flugzeug nach Istanbul saß. Er erzählt, wie er in Adana Zelte und Wasser organisierte und ins Katastrophengebiet fuhr. Wie er half, Tote zu bergen, den Schrei einer Frau über ihr totes Baby hörte, um das niemals wieder zu vergessen. Wie er sich roboterhaft durch die Ruinenlandschaften bewegte und erkannte: „Für viele Menschen dort wird es nie wieder so sein wie vorher. Es gibt eine Zeit vor dem Erdbeben und ein Danach.“

Gedenken und Gebete. Foto: Lichtgut/Zophia Ewska

Eren spricht mit tränenerstickter Stimme. Er nennt Zahlen: „60 000 Tote, 120 000 Verletzte“ und fragt: „Verstehen wir diese Zahlen überhaupt?“ Viel brutaler als diese abstrakten Ziffern sei eine andere Zahl: „Die 1 – nämlich der eine Mensch, der für andere die Welt bedeutet. Und das 60 000 Mal!“ Eren erinnert daran, dass die Menschen nichtsahnend waren und im Schlaf von der Katastrophe überrascht wurden. „Auch wir in unserem schönen Stuttgart wissen nicht, was morgen ist“, sagt er und schließt seine Rede mit der Bitte: „Gedenkt der Toten, helft den Überlebenden. Nehmt Euch Zeit für Eure Lieben und küsst sie.“ Langer Applaus begleitet ihn von der Bühne.

Emotional berührt sind die Zuhörer auch von einer älteren Frau, die spontan ans Mikrofon tritt und von ihrem Schmerz über den Verlust ihrer Schwester berichtet, die bei dem Erdbeben ums Leben kam. Am Ende ihrer kurzen Rede sagt sie, sie habe Kuchen mitgebracht, den sie mit den Anwesenden gerne teilen wolle. Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann, die wegen einer Fußverletzung an Krücken geht, und den Versammelten zuvor ihre Anteilnahme und Solidarität versichert hat, räumt für die Frau ihren Platz, den einzigen Sitzplatz weit und breit. An diesem kalten Februarabend scheint es ein stilles Einverständnis zu geben zusammenzurücken. In vielen Redebeiträgen wird das Verbindende betont. Die Organisatoren des Vereins Mesnet heben hervor, dass hier 15 Organisationen zusammenwirken würden – jenseits aller politischen und religiösen Unterschiede und sonstiger Differenzen.

Gedenken am Schlossplatz, organisiert vom Verein Mesnet („Solidarität“). Foto: Lichtgut/Zophia Ewska

Auch die türkische Generalkonsulin ist gekommen. Makbule Koçak Kaçar verweist auf die Dimensionen der Katastrophe: „Das betroffene Gebiet ist so groß wie Baden-Württemberg und Bayern zusammen.“ Die türkische Regierung würde Hunderttausende neuer Wohnungen bauen und die Infrastruktur reparieren. Das erfordere jedoch Zeit. Durchgehender Tenor der Gedenkfeier ist der Dank an die vielen Helfer – auch aus Stuttgart. Kerim Arpad, Geschäftsführer des Deutsch-Türkischen Forums, spricht von „ungebrochener Solidarität“ und der Hoffnung, sie möge anhalten: „Die Menschen im Erdbebengebiet werden noch lange auf Hilfe angewiesen sein.“

Die versammelten Helfer sind sich dessen bewusst. Speziell auch die Mitglieder des Veranstalters Mesnet. Unter dem Eindruck der Erdbebenkatastrophe hatten sieben spontan Freunde den Verein gegründet, um möglichst schnell und effektiv Hilfe zu leisten. Zwei Mitglieder waren, wie Serkan Eren, von Tag eins an im Erdbebengebiet im Einsatz. Andere sammelten Spenden und organisierten Lastwagen mit Lebensnotwendigem. Die Mesnet-Leute wollen weitermachen und weiter helfen, auch wenn das Thema wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist.