Nicht nur Schweiß, auch die ein oder andere Träne wird fließen, wenn sich die Koreanerin als Tatjana in „Onegin“ von der Bühne und dem Stuttgarter Publikum verabschiedet.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart -

 
Mit Wollstulpen an den Beinen kommt Sue Jin Kang direkt aus der Probe zum Gespräch in eine Garderobe, die ein verirrter Sommertag in eine Sauna verwandelt hat. Kein Problem, die Tänzerin mag es heiß. Nicht nur Schweiß, auch die ein oder andere Träne wird fließen, wenn sich die Koreanerin an diesem Freitag als Tatjana in „Onegin“ von der Bühne und dem Stuttgarter Publikum verabschiedet.
Frau Kang, Popstars belassen es oft nicht bei einer Abschiedstournee. Sie selbst stehen nun vor Ihrem letzten Auftritt als Tänzerin. Tatsächlich der letzte?
Wenn ich sage, es ist der letzte, dann ist es der letzte. Ich bin so dankbar für diese lange Karriere, für eine Ballerina ist sie ein großes, nicht selbstverständliches Glück. Und ich bin überaus dankbar für die Treue der Stuttgarter Fans. Ich bin fast 50 Jahre alt und es ist ein schönes Gefühl, hier meine letzte Vorstellung als Tatjana in „Onegin“ zu tanzen.
Erinnern Sie sich an Ihr Debüt in dieser Rolle?
Ja, das war am Ende von Marcia Haydées Direktion. Ich hatte nur zehn Tage Proben, um mich vorzubereiten. Benito Marcellino war mein erster Partner. Viele folgten - Jason Reilly wird der letzte sein. Es ist schön, dass ich mit ihm meine Karriere beenden kann, denn er ist ein besonders starker Partner. Aber mit jedem habe ich so viel gelernt, dass ich nur sagen kann: Danke, Stuttgarter Ballett.
Tränen werden mehr fließen als sonst, oder?
Wenn Tatjana mit dieser energischen Geste am Ende Onegin die Tür weist, dann gab es in jeder Vorstellung Tränen. Natürlich werden bei meinem Bühnenabschied mehr fließen. Aber ich habe mich lange auf diesen letzten Auftritt vorbereitet und freue mich, dass ich ihn in einer dieser Rolle und umgeben von tollen Tänzern geben darf. Außerdem ist der 22. Juli der Geburtstag meines Mannes und ihm gilt auch mein Dank, weil es manchmal stressig ist, das Leben mit einer Ballerina zu teilen.
Sie werden das Tänzerleben nicht vermissen?
Nein, ich werde gar nichts vermissen. Schlimm wäre, wenn ich nichts vor mir hätte. Dann würde ich am 23. Juli vielleicht in ein Loch fallen. Aber ich habe als Direktorin einer 100-köpfigen Kompanie gar keine Zeit, etwas zu vermissen. Außerdem war meine Karriere erfüllter, als ich es mir je erträumt hätte. Ich habe alle großen Rollen Crankos interpretiert, Julia, Katharina, Tatjana, Carmen. Als ich jung war, wollte ich einfach nur tanzen, nie habe ich an all diese großen Rollen gedacht. Jetzt bin ich sehr neugierig auf mein neues Leben. Natürlich werde ich weiter trainieren, aber mit einem ganz anderen Druck. Vom 23. Juli geht es nur noch darum, gesund und fit zu bleiben.
Das heißt, Sie haben nur noch wegen dieses einen Auftritts in Stuttgart trainiert?
Ich bin eine sehr disziplinierte Person und wollte immer besonders fit sein, wenn ich auf die Bühne gehe –bis zur letzten Vorstellung. Das bin ich den Zuschauern schuldig, auch wenn nur noch dieser eine Auftritt als Tatjana vor mir lag. Also habe ich in Seoul frühmorgens mein persönliches Training vor aller anderen Arbeit absolviert. Jetzt freue ich mich einfach darauf, dass ich ein Leben als normaler Mensch genießen kann. Das mit einem Spaziergang mit meinem Hund und einem Frühstück mit meinem Mann beginnt, nicht mit Arbeit.
Sie gelten als große Tragödin, Crankos Tatjana ist die Rolle Ihres Lebens. Was macht diese Frauenfigur für Sie besonders?
Jedes Mal, wenn ich diese Rolle getanzt habe, bin ich an ihr gewachsen. Ich fühlte mich dieser Frau schon immer sehr emotional verbunden, jetzt aber hat der letzte Akt mehr mit meinem Alter zu tun. Tatjana tritt da als starke Frau auf und gibt mit einer klaren Geste zu verstehen: Ich lebe mein Leben, ich gehe meinen Weg weiter. Auch wenn es im echten Leben nicht so dramatisch zugeht, muss man sich auch da manchmal von Dingen verabschieden.
Gehen Sie die Rolle als reife Tänzerin anders an?
Früher habe ich vor den Auftritten immer Puschkins Poem gelesen, um alle Gefühle besser zu verstehen. Heute lasse ich mich einfach fallen. Cranko macht es mir leicht, er hat alles schlicht und doch perfekt gedacht – ich brauche nur auf die Musik zu hören und zu tanzen. Diese Rolle ist ein Traum für jede Ballerina; die Erinnerung an sie werde ich immer im Herzen tragen. Wenn sie mir von dort in die Gedanken kommt, werde ich bestimmt weinen. Aber es werden gute Tränen sein. Danke, John Cranko!
Was nehmen Sie mit aus Ihrer Stuttgarter Zeit?
Die Welt draußen ist hart, voller Krieg, Terror und Kriminalität. Aber immer, wenn ich dieses Theater hier betreten habe, kam ich mir vor wie Alice im Wunderland. Für mich bleibt dieser Ort ein Paradies. Wir Tänzer haben eine Kunst, für die wir leben, sie steht für ein friedliches Miteinander. Und weil in Stuttgart vom Training bis zu den Aufführungen alles unter einem Dach stattfindet, herrscht hier ein ganz besonderes Familiengefühl.
Hilft Ihnen das bei Ihrer neuen Tätigkeit als Ballettdirektorin?
Ich habe in Stuttgart immer allen gern über die Schulter geschaut – Marcia Haydée und Reid Anderson, aber auch Probendisponenten oder Pädagogen. Als Direktorin habe ich viel mit Menschen aus Ministerien und allen möglichen Bereichen zu tun – und ich habe mit niemandem ein Problem. Das hat sicher mit der Erfahrung zu tun, die ich hier sammeln durfte; so etwas kann man nicht kaufen. Hier habe ich gelernt: Das Leben ist nicht einfach; aber ich habe es in der Hand und kann es gestalten.
Bleiben Sie in Verbindung mit Stuttgart?
Ja, wir haben hier fast unser ganzes Leben verbracht! Sicherlich werde ich oft in Stuttgart sein und Vorstellungen besuchen. Choreografen von hier wie zum Beispiel Demis Volpi haben bereits in Seoul für meine Kompanie ihre Stücke einstudiert. Stuttgart bleibt also weiter wichtig. Hier habe ich auch gelernt, dass Tradition eine solide Basis für Neues ist. Diese schwäbische Stabilität ist typisch für Stuttgart. Ehrlich, klar und direkt: so bin ich auch – also sehr schwäbisch. Das Stuttgarter Publikum hat mich immer sehr unterstützt. Ihm wird immer mein Dank gelten - und natürlich auch Reid Anderson, der mich gefördert und begleitet hat. Er hat es verdient, gefeiert zu werden und ich wünsche ihm alles Gute zu seinem Jubiläum.
Sie werden nächstes Jahr fünfzig Jahre alt. Wie bleibt man so lange fit?
Vielleicht fühle ich mich so jung, weil ich immer von jungen Tänzern umgeben bin. Der Austausch mit einer neuen Generation öffnet den Kopf für neue Gedanken. Überhaupt hält Ballett jung. Man schwitzt viel, das ist wichtig. Mit dem Schweiß fließt auch der Stress ab. Wenn ich im Training den Schweiß spüre, dann geht es mir gut. Ich habe in meiner Wohnung in Stuttgart und in Seoul eine kleine Sauna eingebaut; aber in Bewegung zu schwitzen ist viel besser – das macht gesund.

Dreißig Jahre Stuttgart

Ausbildung
1967 in Seoul geboren, schließt Sue Jin Kang ihre Tanzausbildung bei Marika Besobrasova in Monte Carlo ab. 1985 gewinnt sie als erste Asiatin den Prix de Lausanne.

Stuttgart Seit 1986 ist Sue Jin Kang Mitglied des Stuttgarter Balletts, 1997 wird sie Erste Solistin. Choreografen wie Jirí Kylián, Wayne McGregor, Mauro Bigonzetti, Kevin O’Day schufen Rollen für sie. 1999 erhielt sie den Prix Benois de la Danse, 2007 wurde sie zur Kammertänzerin ernannt.

Direktorin Seit Februar 2014 leitet sie das Koreanische Staatsballett, ihr Direktorenvertrag läuft über drei Jahre.