Der frühere SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Franz Müntefering verlässt den Bundestag. Zum Abschied äußert er große Sorge über das hohe Tempo in der Politik. Er fordert den Mut, Europa als langfristiges Thema wichtig zu nehmen und warnt vor Abgeordneten, die die Welt nur noch verwalten wollen.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)
Stuttgart – - Fast vierzig Jahre war der inzwischen 73-jährige Franz Müntefering Parlamentarier. Seine Warnung: Demokratie verlangt ein menschenadäquates Tempo, sonst wird es lebensgefährlich.
Herr Müntefering, Ihr Büro, in dem wir uns hier in Berlin unterhalten, liegt direkt über Gerhard Schröders Büro. Sehen Sie sich noch oft?
Wenn wir etwas zu besprechen haben, dann machen wir das. Das kommt vielleicht alle Vierteljahr vor. Aussprachen über aktuelle Alltagspolitik haben wir nicht.
Vermissen Sie das?
Nein. Es war eine abgezirkelte Zeit, in der wir ganz eng zusammengearbeitet haben. Danach hatten wir ganz unterschiedliche Aufgaben, da hat sich das verlaufen.
In einem Doppelinterview sagte Schröder einmal, er wäre gerne ihr Freund. Und Sie antworteten: Ach nein, das muss nicht sein. Wirkt dieser Affront bis heute nach?
Es war ungeschickt von mir, das so zu sagen. Was ich eigentlich zum Ausdruck bringen wollte: Ich bin halt nicht so ein Kumpeltyp, der schnell auf Freundschaft macht. Was nicht heißt, dass ich irgendeinen Vorbehalt gegen Gerhard Schröder hatte. Er ist ein guter Typ – und war ein prima Kanzler.
Sind echte Freundschaften unter Politikern unmöglich?
Nein, das ist da nicht anders als im normalen Leben. Menschen gehen einfach unterschiedlich mit dem Begriff Freundschaft um. Ich bin da ein bisschen pingelig. Was mancher Freundschaft nennt, ist für mich eine Bekanntschaft. Das heißt nicht, dass ich weniger Menschen habe, mit denen ich gut kann.
Sie galten allerdings immer als „Alleiner“. Bewahrte Sie diese Distanz auch vor Verletzungen?
Das ist sicher so. Das Distanzhalten ist auch der Versuch, sich zu schützen. Dass man nicht alles offenlegt, was man so denkt. Viele Leute, die mich zum ersten Mal in Echt erleben, sagen zwei Dinge: Erstens, dass ich viel kleiner bin als im Fernsehen. Und zweitens, dass ich freundlicher bin als sie gedacht haben. Wahrscheinlich haben das Fernsehen, meine Physiognomie und meine Ämter dazu geführt, dass ich auf viele wie ein harter Hund wirkte.
Als Ihre persönliche Lieblingsfigur in der Literatur bezeichnen Sie Sisyphos – jene mythische Figur, die zur Strafe immer und immer wieder einen Stein den Berg hochrollt, der aber genauso oft hinab kullert. Empfinden Sie das Tun des Politikers als Sisyphus-Arbeit?
Das ist so. Im ganzen menschlichen Leben ist das so. Man rollt was rauf und denkt, man hat es geschafft, aber dann tauchen neue Probleme auf. Man könnte natürlich sagen, dann lassen wir’s doch bleiben. Aber bei mir ist die feste Überzeugung: Es lohnt sich, den Stein immer wieder nach oben zu rollen. Auch wenn er irgendwann wieder unten liegt.
Aber ist die Mühe dann nicht fruchtlos?
Nein, es gibt ja Fortschritt. Die Tatsache, dass wir eine Demokratie und einen Sozialstaat der aktuellen Qualität haben, das hat mit Menschen zu tun. Die haben gesagt: Die Regeln des Urwalds gelten nicht mehr. Wir machen das jetzt anders, wir geben uns demokratische Regeln. Wir lassen wählen. Und alle Kreuze, die da gemacht werden, sind gleich viel wert. Das war die eigentliche Revolution damals vor 150 Jahren, als das losging mit der Sozialdemokratie bei uns. Dass der alte Krupp nicht mehr Stimmen hat als die bei ihm Beschäftigten, dass Frauen so viel wie die Männer verdienen, und dass jeder gleich viel wert ist. Keiner Herr und keiner Knecht. Das ist die tiefe Furche, die die Demokratie zog – wenn es auch mal Rückschläge gab und gibt. Es lohnt sich.
Wie sehr gehört Scheitern zum Leben eines Politikers?
Die Lebenswirklichkeit ist, dass mit jedem Fortschritt neue Fragen auftauchen. Ein Beispiel: der Mensch spaltet das Atom, und alle freuen sich. Helmut Schmidt, Erhard Eppler – querdurch waren wir doch vor einem halben Jahrhundert begeistert von der Vision einer friedlichen Nutzung der Kernenergie. Und dann merkt man: das hat ja einen Haken, da bleibt Müll übrig, der noch Millionen Jahre strahlt. Bei der Demokratie sind wir im Augenblick an einer wirklich schwierigen Stelle. Demokratie braucht menschenadäquates Tempo. Wenn wir das nicht mehr gewährleisten können, wird das lebensgefährlich für die Demokratie. Die globale Mobilität ist ambivalent.
Haben Sie das Gefühl, dass die Demokratie schon außer Kontrolle geraten ist?
Jedenfalls sind wir nahe dran, wenn ich das Tempo betrachte, in dem heute das Geld die Erde umkreist. Wir haben es nicht geschafft, international das Primat der Politik gegenüber den Finanzmärkten durchzusetzen. Wir denken und handeln politisch immer noch nationalstaatlich. Nehmen Sie die Garantie, die Peer Steinbrück und Angela Merkel auf dem ersten Höhepunkt der Finanzkrise 2008 für die Einlagen der deutschen Sparer abgegeben haben. Hätten wir denn die Macht dazu gehabt?
Aber der Trick mit der Einlagengarantie hat funktioniert, die Deutschen waren beruhigt.
Das war eine klare Priorisierung, zum Äußersten entschlossen. Das wirkte. Die Politik darf nicht sagen: Wir können es doch auch nicht beeinflussen. Dann würden die Bürger nämlich zu recht antworten: Dann brauchen wir auch keine Politiker mehr und keine Demokratie. Das ist ein Riesenproblem. Wir müssen kämpfen, aber die nationale Macht ist begrenzt.