Immer mehr Menschen verbringen ihre freie Zeit in den sozialen Medien. Content, der nie endet. Gefangen in einer endlosen Spirale von Kurzvideos und Fotos. Die Bildschirmzeit steigt und die Aufmerksamkeitsspanne sinkt.

Allein in Deutschland nutzen fast 71 Millionen Menschen Social Media, was 85 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. „Ich nutze Social Media hauptsächlich zur Unterhaltung, wenn man sonst nichts anderes zu tun hat – in der Bahn, im Bus, auf dem Klo“, erklärt Pascal Müller, Student an der Hochschule Pforzheim. So nutzen es wohl die meisten Menschen. Es geht um den Zeitvertreib, wenn heutzutage die Zeit doch bei den meisten immer knapper wird, während man von Termin zu Termin rennt. Doch wann wird der Scroll zum Zeitvertreib zur Krankheit?

 

Wenn das Leben vom Handy diktiert wird

Die sogenannte „Social Media Disorder Scale“, entworfen von den niederländischen Forscher:innen Regina J.J.M. van den Eijnden, Jeroen S. Lemmens und Patti M. Valkenburg, beinhaltet neun „Ja-Nein-Fragen“, basierend auf dem weltweit anerkannten Klassifikationssystem für psychische Störungen. Personen, die fünf oder mehr Fragen mit „ja“ beantworten, sollen ein problematisches Nutzungsverhalten haben. Es werden bekannte Muster von Suchterkrankungen in Bezug auf die Nutzung von sozialen Medien abgefragt. Dazu gehören einerseits Entzugserscheinungen wie Ärger, Traurigkeit oder Unruhe wenn der Zugang verwehrt wird, andererseits das Belügen von Freund:innen und Familienmitgliedern über den tatsächlichen Konsum.

Aber auch die Flucht in die digitale Welt, um negative Gefühle zu bewältigen, gehört dazu. „Ich habe mir ein Zeitlimit von zwei Stunden pro Tag für manche Social-Media-Apps eingestellt, damit ich daran erinnert werde, wie viel Zeit ich dort schon verbracht habe“, berichtet die Digital-Media-Marketing-Studentin Laura Brodt. Laut einer Umfrage von YouGov, einer internationalen Data and Analytics Group aus Köln, empfinden 60 Prozent der Befragten das Nutzen von Social Media als Zeitverschwendung. Ein tägliches Zeitlimit sei eine häufig genutzte Maßnahme, um die Zeitvergeudung zu minimieren.

Soziale Medien als Zufluchtsort

In der heutigen Zeit handeln die meisten Nachrichten von Klimakrise, Krieg oder Pandemie. Das könnte ein Grund dafür sein, wieso sich vor allem viele Kinder und Jugendliche lieber von Beauty-, Lifestyleoder Tiercontent berieseln lassen, denn laut einer DAK Studie aus dem Jahr 2017 nutzt jede:r dritte:r Befragte soziale Medien, um nicht an unangenehme Dinge denken zu müssen. Gemäß dieser vom Forsa-Institut durchgeführten Umfrage liegt die Nutzungszeit von Social Media bei Jungen und Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren durchschnittlich bei rund zweieinhalb Stunden täglich. Nach der „Social Media Disorder Scale“ erfüllen schon ungefähr 2,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland die Kriterien für eine Abhängigkeit.

„Ich denke, Social-Media-Sucht ist ein ernst zu nehmendes Problem, da man nur noch in der Welt der sozialen Medien lebt und den Bezug zur Realität verliert“, kritisiert Pascal Müller. Menschen teilen auf Social Media immer nur den besten, interessantesten und „most intagrammable“ Teil von ihrem Leben. Denn das gibt bekanntlich die meisten Klicks, Likes und Reposts. Laut einer Studie von Vocer, einem Institut für digitale Resilienz mit Sitz in Hamburg, erhoffen sich dadurch vor allem Instagramnutzer:innen eine Selbstbestätigung.

Soziale Medien setzen unter Performance-Druck

„Auf Social Media denkt man sich schnell: Warum lebt eigentlich jede:r so ein Leben, nur ich nicht? Jede:r sieht so aus, nur ich nicht. Jede:r ist so produktiv, nur ich nicht. Jede:r unternimmt coole Sachen, nur ich nicht”, meint Sarah Kayser, Werkstudentin im Social-Media-Bereich. „Das, was dort dargestellt wird, ist ja meistens auch nur eine Momentaufnahme, teilweise auch etwas Konstruiertes, was nicht der Realität entspricht“, verdeutlicht Pascal Müller.

Social Media ist heutzutage jedoch nicht mehr wegzudenken. Soziale Medien haben aber auch ihre guten Seiten, wie beispielsweise den Kontakt mit Freund:innen zu halten, Inspiration für Hobbys und Rezepte oder neue Ideen für Unternehmungen sammeln. „Ich finde, ich habe durch Social Media mehr Inspiration und mehr Mut, mich selbst auszudrücken“, teilt Sarah Kayser mit. Laut einer Studie von Vocer fühlen sich überwiegend Personen unter 30 Jahren nach der Nutzung sozialer Netzwerke inspirierter, motivierter und glücklicher.

Trotzdem raten Expert:innen, darauf zu achten, dass man eine gesunde Balance zwischen echtem und digitalem Leben hält.

Selbsttest

Hast du im vergangenen Jahr …

... regelmäßig feststellen können, dass du an nichts anderes mehr denken konntest als an den Moment, in dem du die sozialen Medien wieder nutzen kannst?

... dich regelmäßig unzufrieden gefühlt, weil du mehr Zeit in sozialen Medien verbringen wolltest?

... dich oft schlecht gefühlt, wenn du die sozialen Medien nicht nutzen konntest?

... versucht, weniger Zeit in sozialen Medien zu verbringen, aber bist gescheitert?

... oft andere Aktivitäten vernachlässigt, weil du soziale Medien nutzen wolltest?

... regelmäßig Streit mit anderen wegen deiner Nutzung sozialer Medien gehabt?

... deine Eltern oder Freund:innen regelmäßig darüber angelogen, wie viel Zeit du in den sozialen Medien verbringst?

... häufig soziale Medien genutzt, um negativen Gefühlen zu entkommen?

... einen ernsthaften Konflikt mit deinen Eltern oder deinen Geschwistern wegen deiner Social-Media-Nutzung gehabt?

Hinweis: Werden mindestens fünf Fragen mit „ja“ beantwortet, liegt laut Fragebogen eine problematische Social-Media-Nutzung vor. Bei dem Selbsttest handelt es sich nicht um eine Diagnose. Bei Suchtverdacht sollte man einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen.