Beim Reizthema Feinstaub herrscht in Stuttgart Handlungsbedarf: Am Montag will Verkehrsminister Winfried Hermann verkünden, mit welchen zusätzlichen Maßnahmen gegen die dicke Luft teure Sanktionen der EU-Kommission vermieden werden sollen.

Stuttgart - Beim Reizthema Feinstaub herrscht im Stuttgarter Verkehrsministerium und im Rathaus Alarmstufe Rot: Denn bis Ende des Monats will die  EU-Kommission wissen, mit welchen wirkungsvollen Schritten Stadt und Land die weit überhöhten Feinstaubwerte in der  Landeshauptstadt endlich unter den Grenzwert drücken wollen.

 

An der Messstation am Neckartor, die täglich von 90 000 Fahrzeugen passiert wird, ist die Luft seit zehn Jahren viel zu dick. Der Feinstaub-Grenzwert darf seit 2005 nur an 35 Tagen im Jahr überschritten werden. Für das „wettermäßig sehr günstige Jahr 2014“ rechnen Fachleute an 60 bis 70 Tagen mit viel zu schadstoffträchtiger Luft. Das genaue Ergebnis steht in ein paar Wochen fest, wenn alle Staubproben analysiert sind. Um den Feinstaub-Grenzwert einzuhalten, muss nach Ansicht von Fachleuten der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz (LUBW) und Umweltverbänden das Verkehrsaufkommen am Neckartor halbiert werden.

Verkehrsminister: Umweltpolitische Herausforderung

Wie bereits berichtet, verlangt Brüssel von Stadt und Land klare Aussagen, wie und wann die Bürger wirksam vor zu hoher Feinstaubkonzentration geschützt werden. Ansonsten droht ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. „Wir nehmen die EU-Klage sehr ernst und betrachten sie als eine umweltpolitische Herausforderung“, hat der Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) in einer Stellungnahme erklärt. Man werde schon bald „Szenarien mit wirkungsvollen Handlungsmöglichkeiten vorlegen“.

Die Suche nach diesen dauert noch an. „Es wird an den Szenarien für abgestufte Maßnahmen gearbeitet“, heißt es auf Anfrage im Verkehrsministerium, wo das Thema erst nach dem Rüffel aus Brüssel als Chefsache gilt. Ein finanziell gefördertes Jobticket, um Mitarbeiter des Landes nach dem Vorbild der Landeshauptstadt zum Umstieg auf die Schiene zu bewegen, gehört aber noch nicht zum Katalog.

Das Stuttgarter Regierungspräsidium hat in Sachen Feinstaub offenbar nicht mehr viel zu sagen. Die StZ-Anfrage wurde von der Aufsichtsbehörde an das „federführende“ Verkehrsministerium weitergeleitet. Dort treffen sich am Montagvormittag Verkehrsminister Winfried Hermann, Oberbürgermeister Fritz Kuhn und Regierungspräsident Johannes Schmalzl zum Feinstaub-Krisengipfel. Nach dem blauen Brief aus Brüssel besteht Handlungsbedarf.

Keine Denkverbote

Im Rathaus ist in den vergangenen Wochen deshalb trotz der Weihnachtstage und des Jahreswechsels nach „noch verfügbaren Potenzialen“ gegen die Krebs erregende Partikelflut gesucht worden. „Es gibt Vorschläge, Varianten und Optionen, aber noch keine fertigen Konzepte“, sagt Michael Münter, Planungschef in der Stabsstelle von OB Fritz Kuhn. Eine Option sieht vor, rasch Tempolimits auf allen Steigungsstrecken in der Stadt anzuordnen.

Tempo 40 soll Fahrt aufnehmen“, bestätigt Münter. Überlegt werde auch, die Einführung des Parkraummanagements in den Innenstadtbezirken und in Bad Cannstatt vor dem Jahr 2018 umzusetzen. „Bei den Maßnahmen gibt es keine Denkverbote“, betont Münter. Man fokussiere sich aber auf schadstoffreduzierende Schritte, die zeitnah zu realisieren seien. An eine Citymaut oder tageweise wechselnde Verkehrsbeschränkungen für Fahrzeuge mit gerader oder ungerader Kennzeichen-Endziffer ist zunächst nicht gedacht. Wenn das Prinzip der Freiwilligkeit nicht greife, müsse es aber verbindliche Vorschriften geben, ist beim Land zu hören.

Umweltverbände: Extreme Belastung durch Stuttgart 21

Die Stuttgarter Umweltverbände verlangen hingegen rasch „eine drastische Begrenzung der Verkehrsmengen in der Innenstadt“. Das Netzwerk 21 hat OB Fritz Kuhn zudem aufgefordert, bei den zusätzlichen Maßnahmen gegen die dicke Luft auch zu berücksichtigen, dass in den nächsten Jahren durch Stuttgart 21 „extreme Belastungen“ auf die Bürger zukommen würden. Für den Tiefbahnhof und 60 Kilometer Tunnelstrecken müsse die „gigantische Menge von rund 20 Millionen Tonnen Aushub“ per Lastwagen transportiert werden. Das seien rund zwei Millionen Fahrten. Hinzu kämen unzählige weitere zur Anlieferung des Baumaterials.

Der blaue Brief aus Brüssel hat auch die Lokalpolitiker im Gemeinderat alarmiert. „Tempo 40 muss rasch an allen Steigungen kommen“, fordert zum Beispiel Peter Pätzold, der Fraktionschef der Grünen. Auch das Anwohnerparken in der gesamten City vermeide viel Verkehr. Wenn hohe Feinstaubwerte drohten, müsse die Leitzentrale das Verkehrsaufkommen reduzieren können. Notwendig sei auch eine Rußfilterpflicht für Baumaschinen.

CDU fordert vernetzten Mobilitätsverbund

Die SPD-Fraktion verlangt einen attraktiveren Nahverkehr, um viele Pendler von der Straße auf die Schiene zu holen. „Wir hoffen auf Verbesserungen durch die neue S-Bahn-Station Mittnachtstraße sowie durch den neuen Filderbahnhof“, sagt SPD-Fraktionschef Martin Körner.

Für CDU-Stadtrat Philipp Hill zeigen „die kontinuierlich zurückgehenden Messwerte, dass die Lenkungsmaßnahmen der Stadt und der technische Fortschritt bei den Fahrzeugen wirken“. Wegen der Überschreitung der Grenzwerte beim Feinstaub und bei den Stickoxiden werde sich die CDU-Fraktion weiterhin für Verbesserungen einsetzen. Dazu gehöre der Ausbau der Verkehrsleitzentrale, um Staus zu vermeiden. Wichtig sei auch der Aufbau eines vernetzten Mobilitätsverbunds in der Region, um den Individualverkehr zu reduzieren.