Ist in den letzten Jahren die Gefahr von terroristischen Anschlägen gestiegen? Die Statistik sagt: ja, aber nicht in der westlichen Welt. Trotzdem nehmen wir das Risiko anders wahr und empfinden Angst vor dem Unberechenbaren.

Stuttgart - Steven Pinker, Psychologe an der Harvard-Universität und Autor populärwissenschaftlicher Bücher, hat eine hoffnungsvolle, aber provozierende These aufgestellt: Die Welt wird friedlicher. Im knapp 1200 Seiten starken Werk „Gewalt“ (Verlag S. Fischer, 12,99 Euro) begründet er diese These mit vielen Statistiken. Auch der Terrorismus nehme ab, schreibt er. Kann das sein, fragt sich der Zeitungsleser und Nachrichtengucker, wenn doch immer wieder von Anschlägen berichtet wird? Pinker will nichts beschönigen, er behauptet nur: früher war es noch schlimmer. Dass die meisten Menschen einen anderen Eindruck haben, könne man psychologisch erklären. Es sei gleichwohl falsch.

 

Vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel kommt Kritik: „Die Thesen von Pinker halte ich für problematisch“, sagt dessen Leiter, Politikwissenschaftler Joachim Krause. Dahinter verbirgt sich mehr als ein Streit über die Statistik, aber zunächst lohnt sich ein Blick auf die Zahlen. Es gibt unterschiedliche Datenbanken, in denen terroristische Anschläge dokumentiert werden, so gut das eben geht. Nicht immer lässt sich für westliche Beobachter erkennen, welches Ziel die Angreifer verfolgen und wie viele sie getötet haben.

Joachim Krause gibt ein „Jahrbuch Terrorismus“ (Budrich Verlag, 36 Euro) heraus, das einen Datenteil erhält. Für die Diskussion ist auch die online verfügbare Global Terrorism Database von der Universität von Maryland in College Park nahe Washington D.C. geeignet. Wenn man sich dort die Zahl der versuchten und durchgeführten Anschläge weltweit anzeigen lässt und sich auf die eindeutigen Fälle von Terrorismus beschränkt, dann stutzt man: Die Kurve zeigt steil nach oben. Zur Jahrtausendwende lag die Zahl unter 2000 Fällen pro Jahr. Als Steven Pinkers Buch vor vier Jahren erschien, waren es mehr als 4000 Fälle. Und 2013 ist fast die Marke von 10 000 Fällen erreicht worden.

Der Erfolg der Prävention

Die meisten Fälle, etwa 8500, entfallen auf zwölf Staaten: Im Irak, in Pakistan und in Afghanistan gab es vorletztes Jahr jeweils mehr als 1000 Anschläge. Zur Gruppe besonders betroffener Länder gehören außerdem: Indien, die Philippinen, Nigeria, Thailand, Jemen, Somalia, Ägypten, Libyen und Syrien. Joachim Krause nennt zwei treibende Kräfte für die Zunahme in den letzten drei Jahren: den syrischen Bürgerkrieg und die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram. Wenn man sich hingegen die Anschläge in Westeuropa herausgreift, bleiben die Zahlen auf niedrigem Niveau. In den achtziger Jahren sind in Westeuropa mehr terroristische Anschläge gezählt worden als heute. „Hier ist viel in Prävention investiert worden“, sagt Krause.

Psychologen und Soziologen untersuchen, wie Menschen Risiken wahrnehmen. Ortwin Renn von der Universität Stuttgart wie auch Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und eben Steven Pinker vertreten die These, dass wir uns in der westlichen Welt vor den falschen Dingen fürchten. Ein bekanntes Beispiel ist die Schätzung Gigerenzers, dass in den zwölf Monaten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 rund 1500 Amerikaner bei Autounfällen starben, die noch leben würden, wenn sie sich weiter auf das sicherere Verkehrsmittel Flugzeug verlassen hätten.

Pinker nennt zwei Faktoren, die psychologisch wirken: Zum einen ist Menschen ein berechenbares Übel, wie es etwa die Statistik der Autounfälle bietet, lieber als ein Risiko, das sie nicht abschätzen können – das Risiko, zufällig zur Zielscheibe eines Terroristen zu werden. Zum anderen packt uns schlicht das Grauen, wenn wir das Blutbad sehen, das die Attentäter anrichten.

Die Psychologie der Angst

Gut möglich, dass die Täter diese Wirkung einkalkulieren, denn große Anschläge mit mehr als hundert Todesopfern sind selten: Ihre jährliche Zahl ist einstellig. Für das Jahr 2013 verzeichnet die Datenbank der University of Maryland zwei Anschläge in dieser Größenordnung: einen von Boko Haram und einen von der Nusra-Front in Syrien. Die Zahl der Anschläge mit weniger als zehn Toten hat sich jedoch in den letzten zehn Jahren fast verzehnfacht. „Terrorismus macht sich die Psychologie der Angst zunutze“, schreibt Pinker, „und richtet damit einen emotionalen Schaden an, der in keinem Verhältnis zu den Schäden an Menschenleben oder Eigentum steht.“ Angst könnte ein guter Leitfaden gewesen sein, als die Gesellschaft noch nicht rechnen konnte, schreibt Pinker weiter. Doch Meinungsfreiheit, Bildung und kritische Debatte tragen langsam, aber sicher dazu bei, die Ängste zu verringern.

Auch Krause hält fest, dass die Gewalt dort abnimmt, wo sich Gesellschaften zivilisiert haben. Doch von Pinkers Thesen grenzt er sich ab. Als Beispiel nennt er die vier Staaten Irak, Nigeria, Jemen und Afghanistan, in denen sich die Zahl der Anschläge mit mehr als zehn Todesopfern in den letzten zehn Jahren von praktisch null auf fast 200 erhöht hat. Dass dieser Anstieg in der westlichen Welt ausblieb, schreibt Krause nicht Bildung und Debatte zu, sondern den „Anti-Terrormaßnahmen auf allen Ebenen“: „Wir sind relativ gut organisierte Gesellschaften und haben funktionierende Staatsorgane.“ Aber in der westlichen Welt machen ihm die Täter Sorgen, die im eigenen Land angreifen: Diese „Homegrown Terrorists“ könnten eines Tages die Präventionsmaßnahmen unterlaufen.

Was zählt als terroristischer Anschlag?

Definition
Terroristen wenden illegal Gewalt an, um Druck auszuüben oder eine Botschaft zu vermitteln – so viel ist klar. Darüber hinaus ist die Frage, welche Anschläge als terroristisch gewertet werden, Definitionssache. Die Übergänge etwa zum Guerilla-Krieg sind fließend. Statistik
Grundlage für diesen Beitrag ist eine frei zugängliche Datenbank der Universität von Maryland, in der Angriffe von nicht-staatlichen Tätern dokumentiert werden. Ein Anschlag innerhalb eines Krieges wird nur in die Datenbank aufgenommen, wenn er gegen Zivilisten gerichtet ist, um ein politisches oder religiöses Ziel zu erreichen. Die Angriffe auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ und den jüdischen Supermarkt in Paris werden trotz des Zusammenhangs als zwei Taten gewertet.