Mehr Europäer als zuvor wollen im Juni ein neues Europäisches Parlament wählen. Das zeigt eine neue Umfrage. Fünf EU-Abgeordnete aus Baden-Württemberg erklären, worum es bei der Wahl geht und welche Themen sie für wichtig halten.

Titelteam Stuttgarter Nachrichten und Stuttgarter Zeitung: Jana Gäng (jkg)

„Diese Wahl wird grundlegend sein“ – geht es um die Bedeutung der Europawahl, wird EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola deutlich. Auch Abgeordnete aus Baden-Württemberg sprechen von einer „Richtungswahl“ und berichten von angespannter Stimmung in Brüssel. Dass Politiker stets die nächste Wahl für die wichtigste halten, ist nicht neu. Keine zwei Monate sind es mehr, bis die Europäer vom 6. bis zum 9. Juni ein neues Parlament wählen. Doch an diesem Mittwoch veröffentlichte das Europäische Parlament mit dem Eurobarometer einen letzten Stimmungstest, der zeigt: Auch die EU-Bürger halten diese Wahl für außergewöhnlich bedeutsam.

 

Mehr als die Hälfte empfindet demnach die Stimmabgabe als sehr wichtig. Die Absicht zur Wahlbeteiligung ist auf einen Spitzenwert geklettert. 71 Prozent der EU-Bürger halten ihre Beteiligung für wahrscheinlich. „Eine hohe Wahlbeteiligung wäre ein mächtiges Signal in Richtung China, Russland und USA, dass Europa zusammensteht“, sagt Rainer Wieland (CDU), Vizepräsident des Europäischen Parlaments aus Stuttgart. Vor der Wahl 2019 lag der Wert noch zehn Prozentpunkte niedriger. Damals gab etwa die Hälfte der EU-Bürger ihre Stimme ab – ein Ergebnis, das alle seit Ende der 90er übertraf. Für das Eurobarometer wurden mehr als 26 000 Bürger aller 27 EU-Mitgliedsstaaten befragt, in Deutschland waren es rund 1500 Personen.

Krieg in Europa mobilisiert Wähler

„Die Wahl steht unter dem Eindruck des Kriegs Russlands in der Ukraine“, erklärt Andreas Glück die Mobilisierung. Glück war Abgeordneter der FDP im baden-württembergischen Landtag und sitzt seit 2019 im Europäischen Parlament. Tatsächlich glauben laut Eurobarometer acht von zehn Europäern, dass die geopolitische Lage das Wählen noch wichtiger mache. „Fragen der Sicherheit sind durch den Krieg in der Ukraine drängend geworden und bleiben es“, sagt Lars Patrick Berg. Berg war Teil des baden-württembergischen Landesvorstands der AfD und zog 2019 ins EU-Parlament ein. 2021 trat er aus der AfD aus und kandidiert nun für das Bündnis Deutschland: „Das Parlament muss entscheiden, wie wir Russland entgegentreten. Und wie gehen wir mit China um, Handelspartner und zugleich autokratisches Regime?“ Verteidigung und Sicherheit der EU hat als Thema für die meisten Deutschen Priorität im Wahlkampf (41 Prozent). Frieden ist der Wert, den die meisten vom Parlament verteidigt sehen wollen (57 Prozent).

Neben der Sicherheitspolitik wird sich das neue Parlament auch in der Klimapolitik auf eine Linie einigen müssen. Zuletzt sorgten EU-weite Proteste von Landwirten für Disput. „Mit dem Vorhaben des Green Deals haben wir Großes angefangen, aber in manchen Bereichen ist wenig geblieben“, kritisiert Anna Deparnay-Grunenberg. Sie saß für die Grünen im Stuttgarter Stadtrat und ist seit 2019 Abgeordnete im Europäischen Parlament. „Daher ist die Frage: Bleibt die nachhaltige Transformation der Wirtschaft wichtiges Thema?“

Jungwähler priorisieren Kampf gegen Klimawandel

Rainer Wieland (CDU) verweist dagegen darauf, dass sich die Prioritäten der Bürger verändert hätten. Im Wahlkampf 2019 sahen Europäer laut Eurobarometer den Klimawandel als wichtigste Aufgabe für die EU. Fünf Jahre später will zwar noch rund ein Viertel der befragten Deutschen, dass Maßnahmen gegen den Klimawandel vorrangig diskutiert werden – doch mehr Deutsche halten neben der Sicherheitspolitik auch die Zukunft Europas (35 Prozent), Migration und Asyl (34 Prozent) oder die Bekämpfung von Armut (29 Prozent) für dringender. Anders sehen das die Jungwähler der 15-24-Jährigen. Hier sind es 35 Prozent, die den Klimawandel mit Priorität diskutiert sehen wollen. 16- und 17-Jährige dürfen bei dieser Europawahl zum ersten Mal abstimmen.

Schließlich sei es eine Wahl, die die Richtung bei Rechtsstaatlichkeit und Demokratie weise, sagt Deparnay-Grunenberg: „Wir sehen vieles als selbstverständlich, was nun auf dem Spiel steht.“ Rund die Hälfte der Deutschen will, dass das Parlament die Demokratie verteidigt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen auf der Liste der deutschen Prioritäten auf Platz zwei (36 Prozent). Zum Zeitpunkt der Umfrage im Februar und März 2024 gingen in Deutschland Millionen für die Demokratie und gegen das Aushebeln des Rechtsstaats durch Rechtsextreme auf die Straße.

Trotz Zufriedenheit: EU-Skeptiker auf Vormarsch

Parteipräferenzen fragt das Eurobarometer nicht ab. Andere Umfragen deuten aber auf Gewinne rechtspopulistischer und in Teilen rechtsextremer Parteien hin. Die Denkfabrik European Council on Foreign Relations erwartet eine „scharfe Wende nach rechts“. Viele dieser Parteien des rechten Randes wie die AfD oder der französische Rassemblement National möchten die Befugnisse der EU stark beschneiden oder haben sogar für einen EU-Austritt geworben. „Dass die Ränder erstarken, ist ein Zeichen dafür, dass einiges nicht in Ordnung ist“, sagt Berg. Kriege hätten die Menschen ermüdet, die Inflation besorgt: „Wir müssen den Wählern zeigen, dass hinter dem Gebrüll an den Rändern wenig steckt.“

Die jüngsten Eurobarometer-Ergebnisse zeigen dagegen EU-Bürger, die ein überwiegend positives Bild der EU (47 Prozent) und des EU-Parlaments (41 Prozent) haben, die die EU-Mitgliedschaft ihres Landes mehrheitlich als wichtig (65 Prozent) und vorteilhaft (71 Prozent) bewerten und von denen mehr als die Hälfte dem Europäischen Parlament sogar eine stärkere Rolle wünscht (56 Prozent). „Die Menschen spüren seit dem Krieg in der Ukraine und der Pandemie deutlicher, dass wir hier nicht die Gurkenkrümmung beschließen, sondern Entscheidungen, die ihre Zukunft und ihren Alltag betreffen“, sagt Réne Repasi, EU-Abgeordneter und Spitzenkandidat der baden-württembergischen SPD. Dass trotz einer zufriedenen Mehrheit den EU-Skeptikern Gewinne zugerechnet werden, versteht Repasi als Abmahnung: „Einige nutzen die Europawahl als Abrechnungs- und Protestwahl, wenn sie im nationalen Kontext unzufrieden sind oder negativ in die Zukunft blicken.“