Eine 53-jährige Krankenschwester ist in der vergangenen Woche beim Teiler der Bundesstraßen 14 und 29 mit einem Lastwagen kollidiert. Da der Unfallhergang strittig ist, hofft sie nun, dass sich Zeugen des Unfalls bei der Polizei melden.

Waiblingen - Er hat sich quasi für mich geopfert“, sagt die Frau über ihren VW Polo. Seit Mittwochnachmittag vergangener Woche ist das knapp vier Jahre alte Auto der 53-jährigen Waiblingerin Schrott. Gegen 16.45 Uhr ist der Polo beim Teiler der B 14 und der B 29 seitlich mit einem Lastwagen kollidiert, anschließend über drei Fahrspuren geschleudert und gegen den Pfeiler einer Schilderbrücke geprallt. Sicherheitsgurt, Airbag und Knautschzone haben funktioniert und die Autofahrerin, die eine Knieverletzung und ein Halswirbeltrauma davongetragen hat, vor noch weit Schlimmerem bewahrt.

 

Die körperlichen Beschwerden seien das eine, sagt die Krankenschwester – aber auch psychisch müsse sie den Unfall erst noch verarbeiten. Was ihr besonders Sorge bereite sei, dass sich ihres Wissens bislang keine Zeugen gemeldet hätten. Unterwegs sind um diese Uhrzeit, mitten im Berufsverkehr, zumindest so viele Autofahrer gewesen, dass sich ein langer Stau hinter der Unfallstelle gebildet hat.

Hoffen auf Zeugen

„Ich kann schon verstehen, dass es, wenn man in der Kolonne fährt, schwierig ist anzuhalten“, sagt die Waiblingerin. Trotzdem macht ihr zu schaffen, dass sich nach dem Unfall, als sie in ihrem völlig verbeulten Auto saß und etwas später mit zitternden Knien daneben stand, zunächst kein Mensch um sie gekümmert habe. Noch nicht einmal die Polizei habe jemand verständigt. Erst nach einiger Zeit habe eine junge Frau angehalten und sich neben sie gestellt: „Sie wollte einfach, dass ich nicht alleine bin.“

Jetzt hofft sie, dass sich im Nachhinein Zeugen melden, die zur Klärung des Unfalls beitragen. Denn was den Unfallhergang angeht, ist die Spurenlage laut der Polizei nicht eindeutig, und die beiden Unfallbeteiligten schildern das Ereignis unterschiedlich. Die 53-Jährige, die sich am Unfalltag auf der ganz rechten Spur eingeordnet hatte, um an der Ausfahrt Waiblingen-Süd die Bundesstraße zu verlassen, erzählt, der links neben ihr fahrende Lastwagen sei plötzlich immer weiter auf ihre Fahrspur geraten. Hupen habe nichts bewirkt, und da es an dieser Stelle keine Standspur gibt, habe sie nicht ausweichen können. Die Fahrzeuge seien deshalb irgendwann aneinandergeraten, danach folgte die verhängnisvolle Schleuderpartie. Der Fahrer des in Polen zugelassenen Lastwagens hingegen bestreitet, den Unfall verursacht zu haben.

„Ich habe eine Haftpflicht- und eine Vollkaskoversicherung mit 150 Euro Eigenbeteiligung, Schadensfreiheitsklasse 34, und keinen Grund, falsche Angaben zu machen“, sagt die 53-Jährige, die sich nun überlegt, mittels einer Zeitungsannonce Zeugen des Unfalls zu suchen.

Klaus Hinderer, der Sprecher des auch für den Rems-Murr-Kreis zuständigen Polizeipräsidiums Aalen, sagt: „Wir sind immer froh, wenn sich jemand als Zeuge meldet.“ Selbst wenn das mit Verspätung geschehe, habe kein Zeuge etwas zu befürchten, versichert Hinderer: „Es sei denn natürlich, jemand hat zum Beispiel selbst mit der Straftat zu tun.“ Dass die Polizei dennoch bisweilen Probleme hat, Zeugen zu finden, führt Hinderer weniger auf ein Desinteresse der Mitmenschen zurück, sondern auf die Tatsache, „dass immer weniger Leute Zeitung lesen und Zeugenaufrufe mitbekommen“.

Interview mit Jörg Kinzig: „Es kommt auf den Einzelfall an“

Diese Situation kennt wohl jeder: Man kommt mit dem Auto an einer Unfallstelle vorbei und fragt sich: weiterfahren oder anhalten? Jörg Kinzig, der Dekan der juristischen Fakultät an der Uni Tübingen, erklärt, wann man stoppen muss und wann nicht.
Herr Kinzig, wann liegt unterlassene Hilfeleistung vor? Schon, wenn ich an einem Pannenauto einfach vorbeifahre, oder muss es sich um einen Unfall handeln?
Nach dem Gesetz muss es sich um einen Unglücksfall oder eine „gemeine Gefahr“ oder Not handeln. Im Straßenverkehr kommt vor allem ein Unglücksfall in Betracht. Als Unglücksfall wird ein plötzlich eintretendes Ereignis angesehen, das erhebliche Gefahr für ein Individualrechtsgut, also etwa für die Gesundheit eines Verletzten, mit sich bringt. Bleibt ein Auto mit einer bloßen Panne liegen, begründet das normalerweise noch keinen Unglücksfall.
Gilt der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung generell oder je nach Situation – ist es also schwerwiegender, wenn sich der Unfall in einer einsamen Gegend oder in der Nacht ereignet hat, als wenn so etwas in der Rushhour auf vielbefahrener Straße passiert?
Das Gesetz unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Situationen. Allerdings muss die Hilfe erforderlich sein. Wenn also bereits ausreichend Hilfe geleistet wird – es ist etwa schon ein Krankenwagen vor Ort – brauchen andere Verkehrsteilnehmer oder Passanten nicht mehr zu helfen.
Angenommen, ein Autofahrer fährt vorbei an der Unfallstelle, alarmiert aber Polizei und Rettung – ist das genug der Hilfeleistung oder reicht das nicht?
Hier gilt der Grundsatz, dass man das Bestmögliche und nicht nur irgendetwas tun muss. Im Übrigen kommt es auf den Einzelfall an. Es kann natürlich sein, dass der Verletzte bereits in der Zeitspanne bis zum Eintreffen des Notarztes erste Hilfe benötigt.
Wie wird unterlassene Hilfeleistung bestraft? Und wird sie tatsächlich bestraft?
Unterlassene Hilfeleistung ist in unserem Strafgesetzbuch in Paragraf 323 c geregelt. Der Gesetzgeber sieht hier eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe vor. Wird das Strafverfahren nicht ohnehin eingestellt und kommt es zu einer Verurteilung, wird in der Regel eine Geldstrafe verhängt.
In welcher Situation wird eher geholfen? Ist ein Unfall, den viele mitbekommen, vielleicht die schlechtere Situation für den Betroffenen, da jeder denkt, der andere soll helfen?
Hier wird tatsächlich der sogenannte „non-helping-bystander-effect“ diskutiert. Darunter wird das Phänomen verstanden, dass sich jeder auf den anderen verlässt, wenn viele Menschen eine Gefahrsituation bemerken. Rechtlich entlastet dieser Umstand jedoch nicht.
Nimmt die Tendenz zum Helfen eher ab, ist die Hilfsbereitschaft seit jeher gleich, oder sind die Leute heute vielleicht sogar hilfsbereiter als früher?
Dazu sind mir keine Untersuchungen bekannt. Mir selbst fällt schon immer positiv auf, wie viele Menschen sich auch heute für andere in Situationen aller Art engagieren. Das sind aber keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse, sondern nur persönliche Eindrücke.
Wie wirkt sich die unterlassene Hilfeleistung auf den oder die Geschädigte aus?
Wird jemandem in einer Gefahrsituation nicht geholfen, kann schon ein Gefühl der Ohnmacht entstehen. Dann sollte man wenigstens versuchen, sich klar zu machen, dass das nicht gegen die eigene Person gerichtet gewesen sein dürfte.