Viele Ungarn kehren ihrer Heimat den Rücken und suchen ihr Glück in Baden-Württemberg. Finden sie es hier?

Stuttgart - Seinen Blaumann hat er in die Waschmaschine gestopft, jetzt sitzt Miklós Kovács, 31, müde nach der Nachtschicht am Wohnzimmertisch seiner Zweizimmerwohnung in der Besigheimer

 
Miklós Kovács Foto: Gottfried Stoppel
Altstadt und raucht. Vor knapp zwei Jahren ist er von Südungarn nach Süddeutschland gezogen. Kovács arbeitet in einem „kein Zuckerschlecken“ ist. Er zückt sein Handy: „Ich zeig dir was.“ Er ruft eine App auf: Das Display zeigt 6,3 Kilometer an. „So viel bin ich neulich Nacht bei der Arbeit gelaufen, nur neben der Maschine, immer auf und ab.“

Er arbeitet am Fließband und an der Kunststoffspritzgussmaschine, die Teile bei 300 Grad in Form gießt. Kovács überprüft die Teile auf Fehler, schraubt sie zusammen, verpackt sie, und dann beginnt alles wieder von vorn. In einer Schicht hat er eine halbe Stunde Pause. Alles in allem sei es gute Arbeit, sagt er. Er ist zufrieden.

Laut dem ungarischen Statistischen Zentralamt haben im vergangenen Jahr mehr als 30 000 ungarische Staatsbürger ihre Heimat verlassen, das sind anderthalbmal so viel wie noch 2013, als Kovács hier ankam und sechseinhalbmal so viel wie noch 2009. Mehr als drei Viertel der emigrierenden Ungarn sind jünger als 40 Jahre, und mehr als die Hälfte sind männlich und unverheiratet wie Miklós Kovács. Vor elf Jahren trat Ungarn der Europäischen Union bei, doch nun scheint diese Entwicklung erst richtig an Dynamik zu gewinnen. Vorrangiges Ziel der Emigranten ist Deutschland und innerhalb Deutschlands das Land Baden-Württemberg.

Er braucht nicht viel im Leben

Kovács spricht nur wenig Deutsch. Das viele Arbeiten habe ihm keine Zeit gelassen, der Sprache mächtig zu werden, sagt er. Das Schwäbische war eine zusätzliche Herausforderung: „Als ich am Anfang in einer Glühbirnenfabrik jobbte, sagte der Schichtleiter zu mir: ‚Musch lang angocke, dann kannsch’s nähma.‘ Da hab ich ganz dumm aus der Wäsche geguckt.“

Kovács spricht mit ruhiger Stimme, höflich und zurückhaltend. Die vielen Flüche, für die die ungarische Sprache berühmt-berüchtigt ist, kommen in seinem Wortschatz nicht vor. Er hat Abitur und schon in unzähligen Berufen gearbeitet: als Koch, Tischler, Schneider, Informatiker, Programmierer. Er brauche nicht viel im Leben, sagt er: ein Auto, eine nette Wohnung, eine faire Bezahlung für seine Arbeit. „Ich lebe gern in Ruhe und Frieden.“

Ein ungarischer Freund half ihm, sich in Deutschland anzusiedeln. Er wohnt gleich im Nachbardorf, so wie er auch in Kovács‘ Heimat unweit der südungarischen Stadt Szekszárd im Nachbardorf lebte. Sie arbeiteten schon in Ungarn zusammen in einem Metallbetrieb, Kovács bediente dort CNC-Maschinen. Aufgenommen wurde er damals, 2007, mit einem Stundenlohn von umgerechnet 1,70 Euro. Mehr könne er wegen der Wirtschaftskrise nicht zahlen, meinte der Chef. „Und am Wochenende musste ich regelmäßig zwölf Stunden arbeiten. Irgendwann sah ich es nicht mehr ein, auch weil ich wusste, in Deutschland kann ich bis zu 3000 Euro verdienen.“

Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen

Der durchschnittliche ungarische Bruttolohn liegt bei 220 000 Forint, etwa 700 Euro pro Monat. Die Preise für Miete und Lebensmittel sind relativ hoch. Das Steuersystem ist für Geringverdiener unzuträglich. Viele flüchten vom Land in die größeren Städte, besonders in die Hauptstadt Budapest. Doch auch hier wird der Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen, Lehrern und Ärzten zum Problem. Und seit im Mai 2010 der ultrakonservative Viktor Orbán zum Premierminister gewählt wurde, fürchten viele eine innere Spaltung des Landes und eine Isolation nach außen. Für Politik hat sich Kovács noch nie interessiert, nicht für die deutsche und auch nicht für die ungarische. „Es ist doch egal, wer gerade an der Macht ist“, sagt er. „Ich bin jetzt hier, zahle hier meine Steuern und gehe nur zu Besuch nach Ungarn. Was zählt, ist doch nicht das Gerede der Politiker, sondern die Realität.“

Und die sieht so aus, dass vergangenes Jahr knapp 40 000 Menschen mit ungarischer Staatsangehörigkeit offiziell in Baden-Württemberg lebten. Etwa ein Viertel aller nach Deutschland ausgewanderten Ungarn kommen ins Ländle. Im ersten Halbjahr 2014 stellten sie hier hinter Rumänen, Polen und Italienern die viertgrößte Gruppe von neu Zugezogenen.

Für Tamás Szalay ist klar, warum so viele Ungarn ihre Heimat verlassen: „Es gibt keine Grenzen mehr, und wir sind eine einige EU. Das nutzen die Ungarn jetzt aus, und ich freue mich sehr darüber.“ Der 46-Jährige leitet seit Januar 2014 das ungarische Kulturinstitut in Stuttgart. Gehen oder bleiben – das seien heute keine existenziellen Fragen mehr. „Natürlich hat der Migrationstrend seine Gründe; ich würde das Thema aber nicht überdramatisieren. Dazu gehört eben auch schlicht und ergreifend, dass man seinen Platz auf der Welt sucht“, sagt er. Szalay stammt aus Pécs, er war Kulturdirektor, als Pécs 2010 europäische Kulturhauptstadt war. Nun in Deutschland verankert zu sein, ist für ihn keine große Umstellung: „Ich bin ja nicht in die Fremde gekommen. Ich habe deutsche Wurzeln, als Student war ich im Sommer oft hier und habe ein Semester in Heidelberg verbracht, später in Berlin und Ulm gelebt. Wer nicht so viele emotionale Verbindungen in ein Land mitbringt, hat es natürlich schwerer.“

Das Ungarische verbindet

Die Tendenz, dass immer mehr Ungarn nach Süddeutschland kommen, beobachtet Szalay mit Spannung: „Wir müssen das als Aufgabe ansehen.“ Besonders eine Gruppe sei in den vergangenen Jahren stark präsent unter den Emigranten: „Die jungen Ungarn, die zur technischen Intelligenz gehören und samt Familie zu Bosch, Mercedes et cetera kommen. Sie sind quasi eine noch unerschlossene Zielgruppe für unser Institut.“ Sie anzusprechen gelingt über kulturelle Veranstaltungen: So gelang es, die in Ungarn populäre Sängerin Bori Péterfy nach Stuttgart zu holen, und die mittlerweile auch international erfolgreiche Jazzmusikerin Veronika Harcsa performte auf Einladung des Kulturinstituts im Bix Jazzclub. Zu solchen Aufführungen kommt Jung und Alt: „70-jährige Damen und Herren setzen sich locker in eine Lautpoesie-Performance rein, und sie genießen es“, sagt Szalay. Das Ungarische verbindet eben.

Nicht nur das Kulturinstitut reagiert auf den neuen Zustrom, auch der ungarische Staat erkennt mit der Wiedereröffnung des Generalkonsulats an, dass Bedarf in Stuttgart ist. Die Auslandsvertretung öffnet am 10. Juni in der Christophstraße. Dann müssen die Ungarn für staatsbürgerliche Angelegenheiten nicht mehr wie bisher nach München reisen.

Baden-Württemberg und Ungarn sind traditionell eng miteinander verbunden. Die erste große Migrationswelle bildete sich im 18. Jahrhundert, als vor allem Deutsche aus Bayern und Württemberg ins Karpatenbecken umgesiedelt wurden, die sogenannten Donauschwaben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie vertrieben und fanden insbesondere im Südwesten Deutschlands wieder eine neue Heimat. Bis zum Jahr 1960 wurden in Baden-Württemberg 290 000 eingewanderte Donauschwaben gezählt. Jetzt scheint sich wieder eine neue Wanderungswelle aufzubauen.

Familie und Freunde fehlen

Über das Konsulat in Stuttgart ist Szalay auch deshalb froh, weil vorher das Institut oft zum Ansprechpartner für konsularische Anliegen wurde. „Das sind dann auch mal problematischere Fälle.“ Einige Einwanderer kämen ohne Plan, ohne Sprachkenntnisse an – und landeten hier dann in der Schwarzarbeit. „Daraus können ernsthafte Probleme erwachsen.“

Auch Miklós Kovács kennt solche Fälle. Er selbst konnte sich durchsetzen, doch das erste halbe Jahr in Deutschland verbrachte er mit ständig wechselnden Jobs, er lebte in überteuerten Arbeiterunterkünften. „Manchmal jobbte ich an einem Tag in Pforzheim und in Freiberg. Mein Zuhause war ein Zweibettzimmer in Pleidelsheim für 350 Euro.“ Diese Monate möchte er nicht noch einmal durchmachen. „In Ungarn denken viele, man kommt hier an und hat gleich eine tolle Stelle.“

Kovács sieht seine Zukunft in Deutschland. „Ich mag Ungarn, es ist ein schönes, kleines Land – aber ohne Perspektive.“ Seine Familie und Freunde fehlen ihm, „zum Glück gibt es ja das Internet“. Wenn er könnte, würde Kovács die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen. „Mein Führerschein ist schon deutsch, wieso sollte ich es nicht sein?“ Aber er sei eben auch Ungar, daran kann und will er nichts ändern.

Cola von Lidl

Auch Tamás Szalay sieht seinen Grundbezugspunkt in Pécs. Trotz seiner vielen Aufenthalte in Deutschland könne er nicht von mehreren Heimaten sprechen, sagt er. „Dabei macht es für mich allerdings auch keinen Unterschied, ob ich jetzt in Budapest oder in Stuttgart lebe – zu Hause werde ich immer in Pécs sein.“

Es ist schon Mittag. Die Abstände zwischen Kovács‘ Gähnpausen werden immer kürzer, die Nachtschicht steckt ihm in den Knochen. „Um 22 Uhr muss ich wieder los“, sagt er, während er sich noch Cola einschenkt. „Ich kaufe sie immer im Lidl. In Ungarn hat sie geschmeckt wie flüssiger Teer. Aber hier schmeckt sie fast wie Pepsi.“