Stuttgart lebt von Vielfalt. Vertreibungspläne von Rechtsextremen gefährden sie. Wir stellen in der Reihe „Zuhause ist hier“ Menschen vor, die ihren Platz hier bedroht sehen. Sie sind natürlich Teil unserer Gesellschaft, meint StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Das Geheimtreffen von Rechtsextremisten im November vergangenen Jahres in einer Potsdamer Villa hat die Republik verändert. Hunderttausende gingen in den letzten Wochen auf die Straße, um gegen Pläne einer Vertreibung von Menschen mit Migrationsgeschichte zu protestieren.

 

Die große Mobilisierung zeigt das Erschrecken der bürgerlichen Gesellschaft ob der Umtriebe und wahnhafter Fantasien am extremen rechten Rand des politischen Spektrums. Wer erlebt, wie sich das Sagbare in den vergangenen Jahren langsam verschoben hat, wer die Wahlprognosen für die AfD bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland oder für die Europawahl sieht, wer im Ausland etwa die Wahlen in Frankreich wahrnimmt, wo die Rechtsextreme Marine Le Pen dem Präsidentenamt immer näher kommt, der muss sagen: Der Aufstand der Anständigen war seit Langem überfällig. Aber jetzt scheint er da zu sein.

Wo ist angesichts der Vertreibungspläne mein Platz in unserer Gesellschaft?

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Stuttgart ist eine Stadt der Internationalität und Weltoffenheit, der Migration und der über viele Jahre geübten erfolgreichen Integration. Die Kultur des Zusammenlebens, der Einheit in Vielfalt: Hier ist sie lebendig. Wer – nach welchen wirren Kriterien auch immer – einige dieser Menschen aus unserem Land vertreiben will, der greift die Fundamente unseres Zusammenlebens an.

Die Stuttgarter Zeitung stellt in diesen Tagen exemplarisch Menschen vor, die sich fragen, wo angesichts der Vertreibungspläne ihr Platz in unserer Gesellschaft ist. Sie sind in Stuttgart aufgewachsen oder auch nicht, sie haben Deutsch als Muttersprache oder auch nicht. Gemeinsam ist allen: Sie sind Teil unserer Gesellschaft, und für sie bedeuten Stuttgart und die Region Heimat. Wir wollen sie sichtbar machen.

Zweifel, Unsicherheit, Wut und Trotz – und das Bedürfnis nach Unterstützung

„Zuhause ist hier“ ist ihr gemeinsamer Nenner. Da ist der deutsche Mann und die deutsch-griechische Frau, die seit vielen Jahren hier leben und nun darüber nachdenken, wie ihr Plan B außerhalb Deutschlands aussieht. Da ist das Paar von IT-Experten, sie aus dem Iran, er aus Österreich, dem zusetzt, dass aus Sicht der Rechtsradikalen nicht einmal mehr die deutsche Staatsbürgerschaft einen sicheren Hafen bietet. Und da ist die 16-jährige Deutsche mit türkischen Wurzeln. Die Gymnasiastin aus Waiblingen wurde hier geboren, gilt in der Türkei als Deutsche, hier manchen jedoch als Ausländerin. Ihr Wunsch: in einem Land zu leben, „in dem ich gewollt werde“.

Wer die Porträts liest, der spürt bei ihnen Zweifel, Unsicherheit, Wut und Trotz – und das Bedürfnis nach Unterstützung. Und dem wird klar, dass solche Vertreibungspläne nicht nur wirtschaftlich gefährlich sind – schließlich benötigt das Land angesichts des Fach- und Arbeitskräftemangels sogar mehr geordnete Zuwanderung als heute. Eine „Remigration“ widerspräche dem Grundgesetz, wäre gesellschaftlich verarmend und menschlich niederträchtig. Welche Leute auch immer gemeint sein mögen – sie würden, wenn sie nicht mehr da wären, eine gewaltige Lücke hinterlassen.

Vielen ist inzwischen klar, dass sie gegen Hetze und Spaltung aufstehen müssen

Die Gemeinderatsfraktion der Stuttgarter AfD kommentiert im aktuellen Amtsblatt die gegenwärtige Auseinandersetzung über die Vertreibungspläne mit dem Satz: „Wen wählen, wenn man die migrationspolitische Verstümmelung dieses Landes wieder heilen will?“ Solche Sätze sind in Inhalt und Duktus demaskierend. Vielen ist inzwischen klar geworden, dass sie gegen Hetze und Spaltung aufstehen müssen. Nach den vergangenen Wochen hat man einen Eindruck bekommen, wo die Mehrheit steht. Und sie ist nicht mehr schweigend, sondern laut und sichtbar.

Aktuelle Debatte

Potsdamer Treffen
Das Recherchenetzwerk „Correctiv“ hat über ein Treffen berichtet, das im November in Potsdam stattfand. Daran nahmen neben dem prominenten Rechtsextremisten Martin Sellner auch Vertreter der AfD und der CDU teil. Sellner stellte ein „Remigrations“- Konzept vor. Es sieht vor, bestimmte Menschen aus Deutschland zu vertreiben – auch welche mit deutscher Staatsangehörigkeit.

„Remigration“
Die AfD verwendet den Begriff „Remigration“ schon länger. Nach der Debatte um die Recherche teilte die Partei mit, dass es dabei nach ihrem Verständnis weder um deutsche Staatsangehörige noch um Vertreibungen ginge.