Am 2. November 1992 endet für William Bils ein prägender Lebensabschnitt: 16 Dienstjahre in den Nellingen Barracks. Vor 20 Jahren wurden die amerikanischen Soldaten abgezogen. William Bils hält die Erinnerung wach.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Ostfildern - Die Sonne strahlt, die Blätter an den alten Ahornbäumen leuchten in bunten Herbstfarben, als Major Douglas Christman am Vormittag des 2. November 1992 die Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika einholt. Eine vierköpfige Bläsergruppe intoniert die Nationalhymne, das letzte versprengte Häuflein von US-Soldaten singt: „O! say does that star-spangled / Banner yet wave, / O’er the Land of the Free / and the Home of the Brave?“ Christman übergibt die zusammengefaltete Fahne Gerhard Koch. „Goodbye and God bless you“, sagt der Oberbürgermeister von Ostfildern zum Abschied. William Bils wischt sich die Tränen aus den Augen.

 

Herbst 2012. William Bils, 55, ist mittlerweile bei der Stadt Ostfildern als Hausmeister angestellt, mit Frau und Sohn lebt er in einer Dienstwohnung am Nellinger Klosterhof. Eine Wand hat er mit Militärabzeichen tapeziert, auf dem Schreibtisch steht der Laptop, in dem all das gespeichert ist, was Bils in den vergangenen 20 Jahren über die Nellingen Barracks zusammengetragen hat: Hunderte Fotos und Berichte von Zeitzeugen. Seine Frau hat extra einen Internetkurs bei der Volkshochschule belegt, damit ihr William sein Wissen per eigener Website weitergeben kann. „Die Barracks waren meine Welt“, sagt Bils und berichtet, dass er unter seiner E-Mail-Adresse usarmynellingen@hotmail.com nahezu täglich Botschaften von Ähnlichgesinnten empfängt.

Im Frühjahr 1951 beginnt das VII. US-Corps damit, auf dem ehemaligen Wehrmachtsflugplatz eine Kaserne zu errichten. Landesregierung und Gemeinderat sind empört: Durch die militärische Nutzung des 140 Hektar großen Geländes sei Nellingens Lebensgrundlage, die Landwirtschaft, gefährdet. Den Amerikanern ist das egal. In einem ersten Schritt lassen sie 40 Gebäude hochziehen, in der Folge entsteht eine ganze Siedlung mit Kinderhort, Schule, Bücherei, Zahnarztpraxis, Friseur, Sportplätzen . . .

Aufregung im pietistischen Schwabenland

Zunächst zieht das 141. Panzerbataillon ein – und versetzt das Schwabenland in pietistische Aufregung. Die amerikanischen Soldaten sind attraktive Burschen mit geregelten Einkommen, eine Kombination, die auf viele deutsche Nachkriegsfräuleins anziehend wirkt. Das Krähenbachtal zwischen der Gaststätte La Paloma und der Scharnhauser Straßenbahnhaltestelle wird im Jargon der GIs schnell zum „Love Valley“. Auch William Bils, der 1957 im Esslinger Kreiskrankenhaus geboren wird, ist das Resultat einer deutsch-amerikanischen Liebschaft. Die Beziehung scheitert, nach einigen Jahren in der Fremde kehrt Sergeant First Class Billy Hodges ohne Frau und Sohn nach North Carolina zurück.

Es sind weniger die väterlichen Gene als die Umwelteinflüsse, die dazu führen, dass William Bils von Jugend an dem „American Way of Life“ folgt. 1970 eröffnet seine Mutter in Sirnau das „Siedlerheim“; die Gaststätte entwickelt sich rasch zu einem beliebten Treffpunkt für die Nellinger GIs. William spielt mit den amerikanischen Soldaten Billard oder verspeist mit ihnen an Thanks Giving einen Truthahn, den seine Mutter im Siedlerheim für die Stammgäste aus Übersee originalgetreu zubereitet.

Als 16-Jähriger wird William von seinen Amikumpels erstmals zu den Barracks mitgenommen. Auf der zwei Meter breiten Rückbank eines Chevrolet Impala schwebt er in ein anderes Universum. William lernt das Leben innerhalb des Stacheldrahtzauns kennen. Im Freizeittreff der Gefreiten (Enlisted Mens’ Club) bekommt er eine Pizza serviert, die so groß wie ein Wagenrad ist und zentimeterdick mit dänischem Schmelzkäse belegt. Er dreht auf der Rollschuhbahn schwungvoll Kreise, schwoft in der Disco zu Marvin-Gaye-Songs und erwirbt über seine guten Beziehungen spottbillig Schallplatten aus dem Post-Exchange-Store.

Arbeitsplatz der unbegrenzten Möglichkeiten

Bei dieser Sozialisation überrascht es nicht, dass William Bils noch heute ausschließlich über die Wohltaten der US Army sprechen will. Er erzählt, dass bedürftige Kinder kurz vor Weihnachten in die Barracks zu einem „unvergesslichen Nachmittag“ eingeladen wurden. Oder wie eine in Nellingen stationierte Hubschrauberbesatzung am 6. April 1964 vier Stuttgarter Feuerwehrleute aus dem Hochwasser des Neckars rettete. Er verschweigt, dass sich die Anrainer der Kaserne regelmäßig über den von der „Aviation Company“ verursachten Fluglärm beklagten. Oder dass die unzureichende Kläranlage auf dem Gelände und ein uraltes Heizwerk die Umwelt auf den Fildern bis Ende der 80er Jahre belasteten. Bils meint: „Niemand hat sich gefreut, als die Amerikaner abgezogen sind – außer vielleicht jene, die die US Army prinzipiell nicht mögen.“ Es gibt wohl wenige deutsche Staatsbürger, die den amerikanischen Streitkräften emotional so nahe stehen wie William Bils.

Im August 1976, gleich im Anschluss an seine Lehre zum Installateur, heuert Bils als „Maintenance Worker“ in den Nellingen Barracks an. Seine militärischen Dienstherren sind Amerikaner, seine zivilen Handwerkerkollegen Süd- und Osteuropäer. Die Multikultigruppe repariert Wasserhähne, die Tore der Hangars oder Wohnungstüren, die die GIs gerne eintreten, wenn sie viel Bier getrunken und zudem ihre Hausschlüssel vergessen haben.

Für William Bils werden die Nellingen Barracks zum Arbeitsplatz der unbegrenzten Möglichkeiten. Sein „Installation Pass“ öffnet ihm Tag und Nacht alle Toren und Türen. Bald kennt er jedes Gebäude, von den Baracken der Gefreiten bis zum noblen Offiziersclub Sheridan, und hat viele Freunde mit unterschiedlichen Hautfarben und Diensträngen. Sie schenken ihm Militärabzeichen, die er zu Hause stolz an seine Korkwand pinnt. Bils macht die US-Truck-Licence und steuert den Werkstattwagen, einen schweren Dodge. Er führt ein very cooles Berufsleben.

Bils spricht mit seinem Dad

Am 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer. William Bils ahnt zu diesem Zeitpunkt bereits, dass er seinen Traumjob verlieren wird. Seit einiger Zeit machen Gerüchte die Runde, dass die Kaserne geschlossen werden soll. Dezember 90 werden die in Nellingen stationierten Soldaten des 2. Nachschubkommandos in den Golfkrieg geschickt. In Spitzenzeiten wohnten 5000 Menschen in der Siedlung, nun ist nur noch eine Rumpfbesetzung übrig. Im Sommer 91 erklärt das amerikanische Verteidigungsministerium, dass der komplette Abzug aus den Nellingen Barracks bevorstehe.

Am 2. November 1992 endet für William Bils ein prägender Lebensabschnitt: 16 wundervolle Dienstjahre in den Nellingen Barracks. Kurz vor dem Ende wird er noch zum Leiter der „Maintenance Worker“ befördert. Er sorgt dafür, dass die Liegenschaften besenrein an die Stadt Ostfildern übergeben werden, die auf dem Gelände den neuen Stadtteil „Scharnhauser Park“ plant. Als bald darauf ein Hausmeister für die zu Mietwohnungen umgewandelten ehemaligen Mannschaftsunterkünfte gesucht wird, bekommt der Insider William Bils diesen Job.

Vierzig Jahre zuvor wohnte in einem dieser Gebäude Sergeant First Class Billy Hodges. William Bils hat seinen Dad seit den frühen Kindheitstagen nicht wiedergesehen, ein einziges Mal, 1993, als der Vater bereits im Sterben lag, rief er ihn in North Carolina an: „Es war ein schönes Gespräch. Er sagte mir, dass er mich niemals vergessen hat.“ William Bils wird das Andenken seines Vaters und der Nellingen Barracks immer in Ehren halten.