Anerkannte Übergangsrituale in die Erwachsenenwelt gibt es in Deutschland kaum. Warum solche Mutproben für Jugendliche wichtig sind.

„Was, wenn jetzt jemand kommt?“ Als Marleen Schwarze mitten im Wald und mitten in der Nacht allein in ihrem Schlafsack liegt, spürt sie, wie die Angst in ihr hochkriecht. Sie hat kein Handy dabei, kein Zelt, das ein bisschen Schutz spenden würde, nur eine kleine Taschenlampe – und den festen Willen, diese und zwei weitere Nächte durchzustehen.

 

Es war ein Geschenk ihrer Eltern zum 18. Geburtstag, das sich Marleen Schwarze sehnlichst gewünscht hat, seit sie 15 war und davon gelesen hatte: eine Jugendinitiation, ein Übergangsritual vom Jugendlichen zum jungen Erwachsenen. Drei Tage im Wald irgendwo bei Kassel, allein mit ihren Gedanken und einer Wasserflasche, aber ohne Essen.

Das ist nun schon ein paar Jahre her. Marleen Schwarze ist inzwischen 27 Jahre alt und studiert in Stockholm. Bis heute aber erinnert sie sich noch gern daran zurück, wie gut und stolz sie sich gefühlt hat, als sie nach den drei Tagen wieder zurück zu ihren Eltern kam. „Zu wissen, dass man so etwas allein schaffen kann, hat mich auf jeden Fall gestärkt und mir das Selbstbewusstsein gegeben, mich erwachsen zu fühlen und eigene Entscheidungen zu treffen.“

In vielen anderen Kulturen gehören Übergangsrituale zum Erwachsenwerden dazu. Mutproben, mit denen man beweisen kann: Ich bin jetzt groß, ich schaffe so etwas allein. Rituale und Feste, die der erwachsenen Gesellschaft zeigen: Dieser junge Mensch ist nun kein Kind mehr, sondern einer von uns.

In Deutschland dagegen wird zwar der 18. Geburtstag meist etwas größer gefeiert, das war’s dann aber schon. Vielen 18-Jährigen ist an diesem Tag nicht klar, was es bedeutet, nun rechtlich erwachsen zu sein, welche Freiheiten, vor allem aber auch welche Verantwortungen das mit sich bringt.

„Außerdem bedeutet die Zahl 18 noch lange nicht, dass die Psyche erwachsen ist, dass man Selbstverantwortung übernehmen kann – oder gar selbstständig ist, sein eigenes Geld verdient, in einer eigenen Wohnung lebt. So gesehen werden viele heute erst mit 30 Jahren erwachsen“, sagt Peter Maier.

Maier ist pensionierter Gymnasiallehrer. Er hat bei seiner Arbeit mit den Schülern gemerkt, dass ihnen Übergangsrituale ins Erwachsenenleben fehlen – eben um sich auf diesen neuen Lebensabschnitt vorzubereiten. Aber auch, um von der Erwachsenenwelt auf Augenhöhe aufgenommen zu werden und für ihren Mut gefeiert zu werden.

Deshalb hat Maier ab dem Jahr 2008 daran gearbeitet, das naturpädagogische Initiationsritual „Walk Away“, das ursprünglich aus den USA stammt, in Deutschland bekannter zu machen. Es geht dabei um einen Aufenthalt allein in der Natur ähnlich dem, wie ihn Marleen Schwarze mitgemacht hat.

Denn Peter Maier ist sich sicher: Junge Menschen wollen irgendwann beweisen, dass sie zur Erwachsenenwelt dazugehören. Und wenn es dafür keine anerkannten Übergangsrituale gibt, dann suchen sie selbst nach solchen kleinen Mutproben. Nach Dingen, mit denen man sich vor Freunden, vor der Gesellschaft und vor sich selbst beweisen kann, dass man erwachsen ist. Dinge also, die Erwachsene tun: Alkohol trinken zum Beispiel oder Auto fahren.

„Die jungen Leute denken, wenn ich das mache, was Erwachsene machen, und dann noch eins draufsetze, dann bin ich einer von ihnen. Leider sind Komasaufen oder Autorennen dann oft missglückte und auch gefährliche Versuche, in die Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden, von ihnen als gleichwertig anerkannt zu werden“, sagt Peter Maier.

Lieber in den Wald als Komasaufen

Dann lieber allein in den Wald, dachte sich Maier und bot jahrelang selbst als ausgebildeter Initiationsmentor entsprechende Kurse an. Inzwischen gibt es auch andere Anbieter für Initiationsrituale. Einer davon ist Momme Falk, mit dessen Wildnisschule Waapiti Marleen Schwarze im Wald unterwegs war. „Wir machen das jetzt seit 10 Jahren und beobachten, dass die Natur einen sehr heilsamen und entscheidenden Beitrag für den Übergang ins Erwachsenenleben bieten kann“, sagt Momme Falk.

Allein mit sich im Wald hätten die Jugendlichen den Raum, sich mit den vielen zentralen Fragen zu beschäftigen, von denen der Übergang zum Erwachsenen begleitet wird: Welcher berufliche Weg passt zu mir? Welches Potenzial und welche Gabe habe ich? Wo ist mein Platz im Leben? Wie kann ich mich von meinen Eltern ablösen – ohne sie zu verlieren?

Insbesondere das Ablösen von den Eltern, beobachtet Peter Maier, findet heute häufig nicht oder zu spät statt. „Wer während des Studiums noch lange zu Hause wohnt, läuft Gefahr, dass er dort noch kein selbstbestimmtes Leben führt und keine Verantwortung übernimmt. Nur wenn man die Kindheit begräbt, kann sich eine erwachsene Persönlichkeit entwickeln.“ Starte man mit einer solchen unreifen Persönlichkeit dann in den Beruf oder in eine Ehe, so Maier, könne es sein, dass dies scheitere, „weil man eben nicht von heute auf morgen erwachsen wird“.

Auslandsaufenthalt tut auch gut

Nun müssen aber nicht gleich alle Jugendlichen in den Wald ziehen. „Es gibt auch andere Wege, um selbstständig zu werden“, sagt Momme Falk und nennt beispielsweise arbeitsorientierte Auslandsaufenthalte wie „Work and Travel“ oder längere Reisen, vor allem, wenn man allein unterwegs ist. Für Peter Maier ist das Ausziehen aus dem Elternhaus „ein großer, mutiger Schritt in die Selbstständigkeit“.

Und manchmal übernimmt das Leben selbst die Initiation. Wenn es einen Todesfall in der Familie oder im Freundeskreis gibt, einen schweren Unfall oder eine Trennung. „Das sind Erlebnisse, die den Menschen dann die nötige Seelentiefe verschaffen“, so Maier. Er sagt aber auch: „Wer ein bewusstes Initiationsritual früher im Leben erlebt hat, begegnet einem Schicksalsschlag meist mit gereifterer Persönlichkeit – und kann ihn dadurch vielleicht besser verarbeiten.“

Beispiele für Übergangsrituale weltweit

Brasilien Im brasilianischen Amazonasgebiet feiern 13-jährige Jungen ihre Volljährigkeit mit folgender Mutprobe: Sie sammeln Riesenameisen, die so in Handschuhe verwoben werden, dass ihr Stachel Richtung Hand ragt. Diese Handschuhe müssen sie dann zehn Minuten anbehalten.

Äthiopien
Hier springen junge Männer vier Mal nackt über einen Ochsen, um ihre Kindheit hinter sich zu lassen. Danach dürfen sei heiraten.

Vanuatu
Auf der keinen Insel im Südpazifik binden sich Jungen Lianen um die Füße, um damit ähnlich wie beim Bungee-Jumping von einem drei Meter hohen Turm zu springen. Vor Zuschauern feiern sie so den Eintritt ins Erwachsenenalter. Die Mütter werfen nach dem Sprung einen persönlichen Gegenstand, der für die Kindheit steht, weg.

Japan
Hier gibt es eine offizielle Feier für alle 20-Jährigen zur Volljährigkeit in den Rathäusern. Danach wird die ganze Nacht mit Familien und Freunden gefeiert.

Deutschland
Hierzulande waren und sind nach wie vor die kirchlichen Feste Kommunion beziehungsweise Firmung sowie die Konfirmation wichtige Feste, die den Übergang ins Erwachsenenleben markieren. Als weltliche Alternative hat sich insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern die Jugendweihe als DDR-Überbleibsel bis heute gehalten - inzwischen ohne politischen Überbau. 14-Jährige können sich für eine Festveranstaltung anmelden, bei der sie symbolisch die Kindheit hinter sich lassen. Sie organisieren danach oft selbst eine Party, meist mit mehreren Familien zusammen, ziehen Abendgarderobe an und viele trinken auch zum ersten Mal Alkohol. (mar)