Mit einem einzigen Leserbrief in der „Heilbronner Stimme“ begann vor 50 Jahren eine heftige Debatte über die Leibspeise der Schwaben und deren Bedeutung. Dabei hatte der Urheber des Streits seinen Landsleuten nur den Spiegel vorhalten wollen.

Heilbronn - Vor 50 Jahren tobte in Heilbronn eine Leserbriefschlacht um das schwäbische Leibgericht Spätzle, ausgelöst von einem Meinungsbeitrag des angeblich aus dem deutschen Norden eingereisten Schreibers Sigurd G.. Die Auseinandersetzung machte bald über Deutschland hinaus Schlagzeilen und brachte die Wortschöpfung „Spätzlekrieg“ hervor, derer man sich jüngst vor allem in der Bundeshauptstadt Berlin wieder so gerne bedient. Den Heilbronnern hinterließ die Flut von Leserbriefen überdies ein bis heute ungelöstes Rätsel in ihrer Stadtgeschichte: „Wer war Sigurd G.“?

 

Die Chronologie der Ereignisse beginnt damit, dass der Lokalredakteur Rudi Fritz in einem dreiviertelseitigen Artikel in der Samstagsausgabe der Lokalzeitung „Heilbronner Stimme“ im März 1965 die traditionelle Mehlspeise der Schwaben verteidigte und als Titel darüber setzte: „Ein echter Heilbronner Schwob will am Sonntag Spätzle auf den Tisch“. Am darauffolgenden Mittwoch erschien im gleichen Blatt der denkwürdige Leserbrief eines gewissen „Sigurd G.“. Er bezeichnete Spätzle als „unappetitlich“, kritisierte „die Überheblichkeit, mit der die Schwaben über ihre Spätzle sprechen, als sei dies wunder was“ und stellte dazu die Grundsatzfrage: „Soll an der Schwaben Spätzlewesen wohl die ganze Welt genesen?“

Diese schlichten zehn Zeilen genügten, um einen wahren Leserbriefsturm zu entfesseln. Die Unterländer Tageszeitung druckte bereits am nächsten Tag fünf Reaktionen als Replik ab, am darauffolgenden Tag waren es schon siebzehn Leserbriefe und noch mal zwanzig am Samstag – die Heilbronner Seele war tief getroffen. „Wenn ihn unsere Spätzle so sehr stören, soll er dorthin gehen, wo man die ganze Woche nur Kartoffeln isst“, ist noch eine der vornehmen Formulierungen inmitten der geharnischten Leserbrief-Auslassungen. Das Damenkränzchen der Heilbronner Wirtinnen mit so renommierten Namen wie Bertl Mayer und Marianne Weber an der Spitze schrieb: „Herr Sigurd G., bitte befreien Sie uns Schwaben möglichst bald von ihrem Reigschmeckten-Dasein und gehen Sie dorthin, wo es keine Spätzle gibt!“

Der Streit wurde auch in überregionalen Medien zum Thema

Das führte dazu, dass der Heilbronner Spätzlekrieg auch in der überregionalen Presse Einzug fand. „Die Zeit“ zitierte eine ausgewanderte Schwäbin aus Hannover: „Vor vierzehn Jahren zog ich aus dem Ländle und lebe seither mit meinem Mann, einem sturen Niedersachsen, im Hannoverschen. Auch meine beiden Söhne sind echte Kinder dieses Landes. Aber wenn’s mal was Besonderes geben soll, dann wünschen wir uns alle Spätzle.“ Und unter dem schönen Titel „Mehl und Ehre“ zitierte „Der Spiegel“ am 21. April 1965 die Hausfrau Paula Staudacher, die den Lümmel Sigurd G. mit dem Spätzlesbrett aus dem Schwabenland hinaustreiben wollte. In Zürich notierte „Die Tat“: „Warten wir hierzulande getrost auf den Ausbruch des Röschti- oder Fondue-Krieges!“

Am Ende wurden in der Redaktion 191 Spätzle-Leserbriefe gezählt. Genüsslich begleitete Werner Thunert, damals Lokalchef der „Heilbronner Stimme“, in seiner Kolumne „Notizbuch“ den dreiwöchigen Spätzlekrieg mit unterschiedlichen Anmerkungen und immer wieder mit den Hinweis, die Identität von „Sigurd G.“ schützen zu müssen: Die Redaktion befürchte, dass ihm die aufgebrachten Schwaben die Fensterscheiben einwerfen; er selbst befürchte das auch. Um ein Haar wäre sogar Sigurd Gehrke aus der Landkreisgemeinde Oedheim körperlich angegriffen worden, hätte ihm die Zeitung nicht noch rechtzeitig öffentlich bestätigt „dass er mit dem Leserbriefschreiber Sigurd G. nicht identisch ist“. Ob weitere Leserbriefe zur anfeuernden Spätzle-Glorifizierung geschrieben wurden, ist nicht bekannt.

Aber 42 veröffentlichte Leserbriefe innerhalb von drei Tagen oder 191 Leserbeiträge in drei Wochen, das ist für die Lokalzeitung, die üblicherweise in einer Ausgabe nur etwa ein halbes Dutzend Zuschriften von Lesern hat, schon recht ansehnlich.

Der Lokalchef kannte indessen den wahren Sigurd G. genau. Er saß ja im Zimmer der „Stimme“-Lokalredaktion nur etwa zehn Meter entfernt an seinem Schreibtisch: der Redakteur Rudi Fritz hatte als Sigurd G. seine eigene Spätzleslobeshymne leserbriefmäßig in die Pfanne gehauen. Was ihn dazu bewog, hat er, dessen Wunsch es war, die Identität von Sigurd G. erst nach seinem Tod preiszugeben, so begründet: Ein gewisser Lausbuben-Spaß, vor allem aber die damals nicht nur latent vorhandene Fremdenfeindlichkeit, die sich immer noch gegen Flüchtlinge, „Reigschmeckte“ und Gastarbeiter richtete.

Sogar das Stadtarchiv widmet sich dem „Spätzlekrieg“

Dieses Element der Fremdenfeindlichkeit haben auch andere so gesehen: Als das Stadtarchiv vor einigen Jahren eine Ausstellung zum Thema Fremde in Heilbronn machte, wurde auch der Spätzlekrieg in diesem Sinne thematisiert. Professor Christhard Schrenk, Leiter des Stadtarchivs, nutzt ihn bis heute zur Schilderung des speziellen Heilbronner Lokalkolorits, der sich auch in dem Spruch manifestiere „Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör bald auf!“. Will heißen, wenn die Heilbronner etwas ernst nähmen, dann setzten sie sich auch dafür ein, und Spätzle hätten sie ernst genommen.

Welche Emotionen sich an den schwäbischen Mehlwürmern („Die Zeit“) bis heute freimachen, zeigte vier Jahrzehnte später die Bundeshauptstadt Berlin. Dort hat bekanntlich der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse 2014 den in Berlin eingewanderten Schwaben „fehlendes Anpassungsvermögen“ vorgehalten weil sie im Bäckerladen im Stadtteil Prenzlauer Berg keine „Schrippen“ kaufen, sondern „Weckle“ verlangen.

In Berlin etabliert sich danach der Begriff „Prenzlschwaben“, Spätzle wurden als politische Wurfgeschosse eingesetzt, Berliner Schwaben forderten im eigenen Stadtteil „Free Schwabylon“ und die Neiddebatte wurde zum „Spätzlekrieg“.

Wie ein Redakteur einen Sturm der Entrüstung auslöste

Siegfried Schilling, der Autor dieses Beitrags, ist Kenner nicht nur der Materie, sondern auch des Akteurs, der den Heilbronner Spätzleskrieg ausgelöst hat. Der heute 77-jährige Schilling war viele Jahre bei der „Heilbronner Stimme“, unter anderem Lokalchef, später auch stellvertretender Chefredakteur. Er erinnert an seinen früheren Mitarbeiter, der sich am Telefon stets mit den Worten
„Ich heiß’ Rudi Fritz“ meldete. Der gebürtige Heilbronner hat Schriftsetzer gelernt und wechselte dann zum Journalismus. Bis Ende der 1960-er Jahre war er bei der „Heilbronner Stimme“, machte in Werbung und arbeitete nach der Wende bei ostdeutschen Medien. Er kam nach Heilbronn und war von 2004 bis zu seinem Tod 2012 auch freier Mitarbeiter der Stuttgarter Zeitung. Eine Anekdote macht deutlich, dass es früher offenbar Usus war, Leserbriefe selbst zu schreiben. Claus Lutterbeck beschrieb das 2013 im Sonderheft zum 100. Geburtstag von „Stern“-Chefredakteur Henri Nannen. Lutterbeck, 1976 von Nannen eingestellt, betreute die Leserbriefe. Wie üblich brachte er sie in die Chefredaktion, obenauf die, die Nannen am wichtigsten waren. Es waren die Briefe, die Nannen selbst geschrieben hatte. Als der nichtsahnende Lutterbeck diese zu langweilig fand, wurde er zusammengefaltet. Lutterbeck dazu: „Wir versichern Ihnen, liebe Leser, dass heute kein Brief mehr gefälscht wird.“ Dem schließen wir uns uneingeschränkt an.