Vor 50 Jahren in Baden-Württemberg Die meisten Verkehrstoten aller Zeiten

Der VW Käfer war 1971 nicht nur das populärste Auto in Deutschland, sondern auch am häufigsten in schwere Unfälle verwickelt. Foto: picture alliance / United Archives/Werner Otto

Warum starben 1971 etwa achtmal so viele Menschen auf deutschen Straßen wie heute? Ein Treffen mit einem Fachmann im Mercedes-Benz-Museum.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Der November 1971 ist kalt, feucht – und blutig. Elf Menschen kommen auf Stuttgarts Straßen ums Leben. An der Solitude schleudert ein 19-Jähriger mit seinem Alfa Romeo gegen einen Baum und ist sofort tot. Am Fasanenhof erfasst ein Opel einen Sechsjährigen, der Bub erliegt in der Klinik seinen Verletzungen. Fünf Familienväter sterben nach einem missglückten Überholversuch auf der Neuen Weinsteige.

 

Ein halbes Jahrhundert später sitzt Guntram Huber im Mercedes-Benz-Museum und blickt zurück auf eine Zeit, in der nicht alles besser war. Huber, 86, gehörte zu einer kleinen Forschungsgruppe, die bereits 1959 im Sindelfinger Mercedes-Werk erste Crashtests durchführte. Ein Modell der Baureihe W 111 – im Volksmund „Heckflosse“ genannt – ließen die Versuchsingenieure anfangs von einer Seilwinde gegen einen Stapel aus alten Presswerkzeugen ziehen. Auf den Vorder- und Rücksitzen waren Schaufensterpuppen platziert. „Das war ein exotisches Projekt“, sagt Huber. „Das Auto stand damals für Freiheit und Erleben – ein Bewusstsein dafür, dass es auch sicher sein sollte, existierte hingegen noch kaum.“

Plakate an Autobahnen

1971 stirbt alle 27 Minuten ein Mensch auf westdeutschen Straßen. Im Frühjahr des Jahres beschließt die Regierung unter Willy Brandt, 8,1 Millionen Mark für „Aufklärungs- und Erziehungsmaßnahmen im Straßenverkehr“ bereitzustellen. Plakate an Autobahnen („Abstand halten“) und Schautafeln in Innenstädten mit den aktuellen Unfallzahlen sollen auf die Gefahren aufmerksam machen. Die Jusos fordern, anstatt unzähliger neuer Straßen mehr U-Bahnstrecken zu bauen. Verkehrsminister Georg Leber (SPD) hält das für keine gute Idee, schließlich sei die Automobilindustrie die tragende Säule der bundesdeutschen Volkswirtschaft. Zudem dürfe es nicht Aufgabe der Politik sein, „dem Bürger vorzuschreiben, was er eigentlich wollen sollte“.

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Stärke durch Nachgeben

Auch Guntram Huber ist ein leidenschaftlicher Autofahrer – und ein gewissenhafter Versuchsingenieur. Akribisch arbeitet er mit seiner Forschergruppe daran, die Folgen von Unfällen zu begrenzen. Die Crashtests haben gezeigt, dass nicht das schwerste Auto das sicherste Auto ist, sondern, wie Huber sagt, „Stärke durch Nachgeben entsteht“. Mercedes-Modelle verfügen daher über Knautschzonen an Front und Heck, die einen großen Teil der bei einem Aufprall auftretenden Stoßenergien unschädlich machen. Gegen Aufpreis werden für die Vordersitze neuartige Dreipunktsicherheitsgurte mit automatischer Aufrollfunktion angeboten. Viele Mercedes-Kunden verzichten zunächst auf das Extra, das rund 150 D-Mark pro Sitz kostet. Im innerstädtischen Verkehr schnallt sich 1971 nur jeder hundertste Deutsche an.

Umdenken in den USA

Die Amerikaner sind da längst wachgerüttelt – durch das 1965 erschienene Buch „Unsafe at any Speed“ – unsicher bei jeder Geschwindigkeit. Darin deckt der Autor Ralph Nader, Rechtsanwalt aus Connecticut, die Konstruktionsschwächen damaliger Autos schonungslos auf. Nader beschreibt beispielsweise, wie eine Lenksäule nach einem Aufprall den Brustkorb des Fahrers „wie ein Grillspieß“ durchbohrt. Das US-Verkehrsministerium reagiert auf die Enthüllungen, indem es die Vorschriften für die Automobilkonzerne rigoros verschärft. Hersteller, die es nicht schaffen, innerhalb eines Jahrzehnts die neuen amerikanischen Sicherheitsstandards zu erfüllen, sollen vom größten Markt der Welt verbannt werden.

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Mercedes verstärkt daraufhin seine Bemühungen, wie Guntram Huber rückblickend sagt, „als Marke wahrgenommen zu werden, die der Konkurrenz beim Thema Sicherheit weit voraus ist“. Am 23. Oktober 1971 lässt Daimler-Benz eine „Aufprallschutzvorrichtung für den Insassen eines Kraftfahrzeugs“ patentieren. Nur drei Tage später wird die Neuentwicklung in Anwesenheit des Chefs der US-Verkehrssicherheitsbehörde, Douglas Toms, im Werk Sindelfingen präsentiert. In das Versuchsfahrzeug auf Basis des sogenannten „Strich-Achters“, dem Butter-und-Brot-Modell von Mercedes, sind vier Luftsäcke (Englisch: Airbags) eingebaut. Mercedes-Chefkonstrukteur Hans Scherenberg muss allerdings einräumen, dass „einige Haltesysteme im Versuch versagten“. Zehn Jahre dauert es noch, bis der Airbag sich für 1525,50 DM erstmals in der Preisliste einer S-Klasse findet.

Protzige neue Modelle

Außerhalb der Fachwelt interessiert sich 1971 noch niemand für die Erfindung. Das Gros der Autoliebhaber sehnt sich nicht nach einem effektiven Unfallschutz, sondern nach möglichst viel PS unter einer langen Motorhaube. Neue Kleinwagen? Fehlanzeige. Nach wie vor beherrscht der VW Käfer als Fahrzeug der Arbeiter und Studenten das Straßenbild. Und auch an tödlichen Unfällen ist kein Modell häufiger beteiligt als der preisgünstige Volkswagen, der bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg konstruiert worden ist. Erst 1974 bietet der deutsche Marktführer mit dem Golf ein modernes Jedermann-Auto an.

Zu dieser Zeit entwickelt Guntram Huber in Sindelfingen den Airbag weiter. Wie ist es zu schaffen, dass sich der 70 Liter große Textilsack innerhalb von zehn Millisekunden aufbläst und den Fahrer sanft abfängt? Fündig wird Huber bei der Bayer AG. Ursprünglich hatte der Chemiekonzern einen flammenfreien Treibstoff für einen Raketenantrieb entwickelt. Nun wird der Airbag-Generator mit diesem Mittel gefüllt. Nach der Zündung erzeugt es nahezu reinen Stickstoff, ein für Insassen unschädliches Gas.

Nächste Herausforderung: Wie kann man gewährleisten, dass der Airbag erst bei einem Unfall ausgelöst wird und nicht bei der Fahrt über ein Schlagloch oder einen Bahnübergang? Der Elektronikspezialist Bosch wird mit ins Boot geholt, so entsteht in schwäbischer Koproduktion das weltweit erste Airbag-Steuergerät in Serie.

Sicherheit durch Technik

Heute hat selbst ein rumänischer 9000-Euro-Kleinwagen zwei Airbags, ABS und einen Notbremsassistenten. Der technische Fortschritt ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Zahl der tödlichen Unfälle seit 50 Jahren kontinuierlich zurückgeht, obwohl die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge steigt. 2020 starben auf deutschen Straßen 2724 Menschen – und somit fast achtmal weniger als 1970, wo der traurige Höhepunkt mit 21 332 Verkehrstoten erreicht wurde. Guntram Huber gehört zu den Pionieren, die diese Entwicklung möglich gemacht haben.

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