Im Wahljahr 2017 sind Meinungsforscher gefragt wie selten. Renate Köcher, Geschäftsführerin des Allensbach-Instituts, spricht im Interview darüber, warum es immer schwieriger wird, die Stimmung der Bürger zu erkunden – insbesondere der jüngeren.

Familie/Bildung/Soziales: Lisa Welzhofer (wel)

Stuttgart - Eine wachsende Zahl an Parteien mache die Arbeit der Meinungsforscher schwieriger, sagt Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach (IfD), das dieses Jahr 70-jähriges Bestehen feiert.

 
Frau Köcher, die klassischen Parteibindungen lösen sich auf, es gibt mehr Wechselwähler und solche, die sich in letzter Minuten entscheiden. Machen diese Entwicklungen Ihre Arbeit im Wahljahr besonders schwierig?
Die Herausforderungen an die Wahlforschung waren schon immer groß, weil so viele Faktoren mitspielen: Ereignisse in letzter Minute, das Verhalten der Kandidaten – solche Dinge können vieles ins Rutschen bringen. Was unsere Arbeit mittlerweile komplizierter macht, ist, dass es mehr Parteien gibt als früher. Und jede Partei hat ihre Besonderheiten. Die Grünen hatten zum Beispiel von Anfang an mehr Sympathisanten als tatsächliche Wähler. Eine Partei wie die Grünen mit vielen jungen Anhängern hat ein Problem, weil Jüngere seltener zur Wahl gehen. Sie bekommen daher in den Umfragen hohe Sympathiewerte, die sie aber an der Wahlurne nicht vollständig umsetzen können.
Auf der anderen Seite gibt es Parteien, die unterschätzt werden, weil die Befragten nicht zugeben, dass sie diese wählen werden. Ist das im Fall der AfD so?
Unser Institut hat geprüft, ob es eine solche Verschweigetendenz gibt. Das Ergebnis war: Es gibt sie zurzeit nicht. Es zeigte sich sogar, dass viele sehr frei über AfD-Sympathien sprechen. Die Flüchtlingskrise hat dazu beigetragen, dass es nicht als inkorrekt gilt, sich zur dieser Partei zu bekennen.
Für die Landtagswahl im Saarland sagten mehrere Institute ein knappes Ergebnis zwischen CDU und SPD voraus und einen möglichen Regierungswechsel hin zu Rot-Rot. Am Ende lagen zehn Prozentpunkte zwischen den großen Volksparteien. Woran lag diese Fehleinschätzung?
Wir haben im Saarland keine Analysen gemacht, aber das Umfeld dieser Landtagswahl war für die Institute, die dort gearbeitet haben, eine besondere Herausforderung, da die Parteisympathien im ganzen Bundesgebiet seit Januar in Bewegung geraten sind. In einer so volatilen Situation sind Daten oft von einem Tag auf den anderen überholt. Die Umfragen ließen ja erkennen, dass es im Saarland in den letzten Wochen vor der Wahl viel Bewegung gegeben hat, insbesondere bei den beiden großen Parteien. Die Entwicklungen in den letzten Tagen vor der Wahl hat jedoch keine Umfrage mehr abdecken können. Man muss wissen, dass die Institute vor Landtagswahlen in der Regel weitaus weniger Untersuchungen durchführen können als vor einer Bundestagswahl.
Ihre Prognose für die Bundestagswahl im Herbst: Wird sich der positive Effekt des Kanzlerkandidaten Martin Schulz auf die SPD-Werte halten?
Das ist schwer vorhersehbar. Ich kann mich auch an keinen vergleichbaren Fall erinnern, in dem im Wahljahr ein Kandidat von außen kam, der in der Bundespolitik vorher kaum präsent war. Interessant ist auch: Schulz hatte vor seiner Nominierung in Umfragen nicht annähernd so hohe Zustimmungswerte wie danach.
Im vergangenen Jahr lagen Meinungsforscher auch bei der US-Präsidentschaftswahl daneben. Danach wurde behauptet, die Demoskopie stecke in einer Krise.
Der Vorwurf war bei Trump nicht berechtigt. Die Institute hatten vorhergesagt, dass Hillary Clinton knapp vorn liegen wird – wenn man nur die reinen Stimmen der Wähler betrachtet. Und das tat sie ja tatsächlich auch, mit etwa 2,5 Millionen Stimmen. Wenn man sich die Ergebnisse für die einzelnen Staaten ansieht, haben die Institute das Ergebnis für 40 Staaten richtig vorher gesagt, für einen Staat falsch und für die übrigen haben sie prognostiziert, es werde ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Es war also alles möglich. Das Problem waren daher weniger die ermittelten Daten, sondern deren Interpretation. Ich glaube, die meisten, die mit diesen Daten konfrontiert waren, konnten sich einfach nicht vorstellen, dass Trump gewinnt – die berühmte Schere im Kopf.
Vor 70 Jahren war Allensbach das erste und einzige Umfrage-Institut in Deutschland. Heute haben Sie viel Konkurrenz, das Interesse an Umfragedaten ist enorm. Ist die Arbeit dadurch einfacher oder schwieriger geworden?
In Teilen sicher schwieriger. Die Flut an Informationen und Daten hat unter anderem dazu geführt, dass Umfrageergebnisse rasch und teilweise auch kritiklos konsumiert werden. Das Methodeninteresse hat nachgelassen, es wird immer weniger gefragt, ob ein Ergebnis wirklich repräsentativ und belastbar ist, ob die Frageformulierung neutral war oder wie groß die Fehlerspanne ist.
Welche Folgen hat es?
Das hat nicht nur für die Meinungsforschung Konsequenzen: Durch das Internet sind so viele Informationen wie noch nie verfügbar, und das jederzeit rund um die Uhr. Das hat das Informationsverhalten insbesondere der jungen Generation stark verändert. Immer mehr geben die regelmäßige Information auf – nach der Devise: Wenn ich Infos brauche, hole ich sie mir. Ich muss daher nicht mehr täglich Zeit für die aktuelle Information aufwenden. Eine Folge ist, dass unter 30-Jährige heute ein engeres Interessenspektrum haben als vor 15 Jahren. Kinder und Jugendliche gewöhnen sich heute daran zu selektieren und primär das an sich heranzulassen, was sie von vornherein interessiert. Dadurch entwickelt sich das Interesse an Politik und Wirtschaft jedoch nicht mehr so wie früher.
Wie wirkt sich das geänderte Informationsverhalten auf Ihre Arbeit aus?
Wir haben ja eine enorme Beschleunigung in Wirtschaft und Gesellschaft. Gründliche Untersuchungen der öffentlichen Meinung brauchen jedoch bei vielen Themen Zeit. Wir verzichten daher teilweise auf Untersuchungsaufträge, bei denen es nur um eine möglichst rasche Beschaffung von Daten geht.
Unternehmen wie Google sammeln heute riesige Datenmengen über Ihre Nutzer, die diese im Internet hinterlassen, über Konsumverhalten, aber auch Einstellungen und Lebensstil. Wird diese „Big Data“ genannte Entwicklung Ihren Job irgendwann überflüssig machen?
Das sind zwei ganz unterschiedliche Herangehensweisen: Bei einer demoskopischen Untersuchung entscheiden Forscher, welche Daten sie wie und von wem erheben. Bei Big Data müssen Sie mit dem arbeiten, was ohnehin erfasst wird. Aber letzteres gewinnt natürlich durch die Fülle verfügbarer Daten an Bedeutung. Bestimmte Untersuchungen, die bisher von demoskopischen Instituten durchgeführt wurden, werden teilweise von den Firmen selbst gemacht, zum Beispiel Kundenzufriedenheitsanalysen. Allerdings ist gerade in Bezug auf Big Data die Analysekompetenz sehr wichtig. Man muss wissen, wie man mit großen Datenmengen umgeht, auf was man sich konzentrieren muss. Das ist eine Kernkompetenz der Institute, die sich damit auch neue Geschäftsfelder erschließen können.