Kinderarmut, hohe Mietpreise, Arbeitslosigkeit: An Klaus Wowereit perlt alles ab, auch die Probleme Berlins. Und trotzdem lieben ihn die Bürger.

Berlin - Der Neuköllner Norden ist nicht unbedingt das ideale Pflaster für einen schmal geschnittenen schwarzen Einreiher. Aber was will man machen. Ein Wahlkämpfer kann sich schließlich nicht dreimal am Tag umziehen.

 

Also hält Klaus Wowereit ein wenig Abstand. Das ist auch gut so. Denn vor seinen Augen tobt die Neuköllner Wut. Fäuste sausen erbarmungslos nieder, wie Platzregen stieben blutrote Tropfen zur Seite. Es ist Wahlkampf, und der Amtsinhaber ist auf Kieztour, heute auf dem Programm: der bekannteste Problemstadtteil der Republik. Erste Station ist eine Kinderkunstschule.

Wowereit schaut zu und lächelt

Der Besucher steht im Innenhof, und blickt auf ein Dutzend Kindergartenkinder in Kittelschürzen. Die hauen mit Leidenschaft auf eine Leinwand voller Farbe ein, sie schmieren und reiben und klecksen. Die Kinder malen Gefühle, heute ist die Wut dran. Wowereit schaut zu und lächelt. Er lächelt auch dann noch, als einer dieser fiesen fetten Farbtropfen - platsch - auf seiner Hose landet. In die Sozialpädagoginnengesichter rundherum gräbt sich sprachloses Entsetzen. Wowereit lächelt und spricht weiter. "Rot is' jut", sagt der 57-Jährige und zeigt auf das Bild "auch wenn da in da Ecke ein bisschen grün is'." Seine Hand gräbt beiläufig in der Hosentasche, zieht ein Taschentuch heraus, wischt den Tropfen ab. Es ist, als sei der Hosenstoff imprägniert. Man sieht rein gar nichts.

So ist das mit Klaus Wowereit. An diesem Mann perlt alles ab. In der Stadt explodieren die Mietpreise. Jedes dritte Kind wächst in Armut auf. Fast jeder zweite verdient weniger als Tariflohn. Die Arbeitslosenquote sträubt sich gegen den sinkenden Bundestrend und bleibt bei 13 Prozent. Berlin ist das größte Nehmerland im Länderfinanzausgleich. Die Stadt ist mit 63 Milliarden Euro verschuldet.

In so einer Zeit macht jeder Fehler

Und Wowereit? Verlässt die Kinderkunstschule, steigt auf eine Bühne vor dem Neuköllner Rathaus und erklärt seinen Berlinern, was alles geht: mehr als 100 000 neue Arbeitsplätze, kostenlose Kitas für alle, neue kommunale, bezahlbare Wohnungen, ein neuer Flughafen - ja, mit ein bisschen Lärm, der die Menschen aufregt, das stimmt. Aber: "Ich versteh das nicht, alle wollen in Urlaub fliegen, aber keiner will den Krach." Gelächter.

Seit zehn Jahren ist er nun Regierender Bürgermeister von Berlin. Das ist eine lange Zeit. In so einer Zeit macht jeder Fehler. Und auch wer wenige Fehler macht, der wirkt nicht mehr so frisch, langweilt oder verärgert sein Publikum mit seinem immergleichen Gesicht. Ole von Beust, einst Hamburgs Erster Bürgermeister, hat das bei seinem Rücktritt schön gesagt: "Heute ist man viel schneller durchgenudelt."

Künast ist mit ihrer Partei in den Umfragen abgestürzt

Bei Wowereit ist das anders. Wenn die Berliner am 18. September nicht das Abgeordnetenhaus, sondern ihn direkt wählen könnten, dann würden 60 Prozent das tun. Seine SPD kommt ungefähr auf die Hälfte, so sagen es die aktuellen Umfragen. Das Duell, das eine Zeit lang alle mit den Grünen erwarteten, fällt aus: Renate Künast, die Spitzenkandidatin, ist mit ihrer Partei in den Umfragen abgestürzt - von 30 auf 20 Prozent. Da hilft es auch nicht, wenn alle Grünen immer wieder betonen, 20 Prozent sei ein Rekordwert. Die CDU gewinnt in den letzten Wochen ein bisschen hinzu und hat derzeit 22 Prozent. Wowereits politische Lebensabschnittsgefährten von der Linkspartei liegen bei etwa 11 Prozent. Und die Piratenpartei könnte sich anschicken, zum ersten Mal ein Landesparlament zu entern. Rein rechnerisch sind in Berlin - je nachdem, wie die Sache mit den Piraten ausgeht - also zwar eine Menge Koalitionen denkbar. Extrem unwahrscheinlich allerdings ist jede Konstellation, die nicht Klaus Wowereit an ihrer Spitze sieht.

Der Mann ist ganz oben. Es gibt Leute im Willy-Brandt-Haus, die wieder darüber reden, ob er nicht sogar Kanzler werden könnte. Wie ernst man das nehmen muss, wird in der Begründung deutlich, die eine formale, keine inhaltliche ist: wer drei Mal zum Ministerpräsidenten gewählt werde, komme naturgemäß in Frage. Wowereit selber jedenfalls schweigt dazu und genießt. Die Macht, die Beachtung, die Projektion.

Der erste Politiker, der sich outete

Das alles hat man nicht unbedingt erwarten können, als ein bisher lediglich im Berliner Halbtagsparlament profilierter SPD-Haushaltspolitiker vor zehn Jahren die große politische Bühne betrat.

Aber wie Wowereit das damals tat, das kann man im Rückblick als Teil seiner Erfolgsstrategie begreifen. "Ich bin schwul, und das ist auch gut so", rief er den Delegierten eines SPD-Parteitags entgegen. Er tat das nicht aus freien Stücken, sondern weil sie es sonst anderntags aus einer Zeitung erfahren hätten. Das war mutig, und es war instinktgeleitet. Er war der erste Politiker, der sich outete. Er nutzte einen Umstand offensiv, der andere bei einem anderen Umgang damit die Karriere gekostet hätte. Es war ein Risiko, aber kalkulierbar in einer Stadt wie Berlin. Und es lohnte sich.

Er kann auch Berlin von unten

Wowereit wurde auf einen Schlag extrem bekannt, das ist eine harte Währung in der Politik. Aber er schaffte noch etwas anderes. Sein Outing leitete tatsächlich einen gesellschaftlichen Klimawandel in der Republik ein, der unumkehrbar ist. Das ist, wenn man so will, sein historischer Erfolg. Er errang ihn mit dem, was er am besten kann - Wowereit punktete im entscheidenden Moment nicht mit einem Programm, sondern: mit sich selbst. Jetzt, zehn Jahre später, sieht es in den Straßen der Stadt ganz danach aus, als sei es wieder so. An jeder großen Verkehrsader lächelt der Bürgermeister von großen Plakaten seine Berliner an.

Mal führt er eine alte Dame an der Hand, mal drückt ihm ein Kita-Kind ein Stoffkrokodil ins amüsierte Gesicht, mal sinniert er vor sich hin, beschienen von schräg einfallendem Licht. Es sind Alltagsszenen, es geht um die Menschen, die hier leben, nicht um das Hochglanzberlin. "Berlin verstehen", steht darunter. Natürlich ist der Slogan als Angriff gemeint - gegen Renate Künast, die Zugezogene, die es angeblich nicht hat, dieses Berlin-Gen. Aber die Bilder sollen auch sagen: Wowereit versteht nicht nur die Stadt und ihren Glamour, sondern auch ihre schwächsten Bewohner. Er ist nicht nur der Über-Berliner. Er kann auch Berlin von unten.

Die Konkurrenz schimpft derweil über brennende Autos

Wer sich ansieht, was der Bürgermeister in der ablaufenden Amtszeit so getan hat, der mag Schwierigkeiten haben, große politische Linien zu entdecken. Aber er wird schnell erinnert an eine andere Sache: Der Mann hat seine Autobiografie veröffentlicht. Andere Politiker schreiben über Finanzpolitik, Umweltpolitik, Integrationspolitik. Er schrieb über sich. Wer das Buch liest, lernt etwas darüber, wie die eigene Geschichte zum Antrieb politischen Handelns werden kann. Ein vaterlos aufwachsendes Kind in kleinen Verhältnissen arbeitet sich hoch - wer will, kann es schaffen, so die Quintessenz, und sozialdemokratische Politik erleichtert den Aufstieg jener, die nicht mit dem silbernen Löffel im Mund geboren wurden. Man kann diese Erkenntnis durchaus als seinen entscheidenden Antrieb sehen: "Wer mit einer hart schuftenden Mutter wie Hertha aufgewachsen ist, der braucht kein Grundsatzprogramm, um seine politischen Koordinaten zu finden."

Obwohl, ein bisschen Koordinaten wäre manchmal auch ganz schön. Im Wahlkampf wird man mit Sätzen konfrontiert wie diesem: "Berlin hat eine Ausstrahlung, eine Anziehung, eine Wildheit und auch eine Schönheit." Und keiner wundert sich. Die Konkurrenz schimpft derweil über brennende Autos, fehlende Industriearbeitsplätze und lahmende Wirtschaftskraft. Wenn er die Suada seiner Kritiker über die Stadt hört, dann kann er schon mal giftig werden: Wer die Stadt so schrecklich finde, sei ja nicht gezwungen, hier zu wohnen, entgegnet er dann.

Er fungiert auch gern als Maitre der Eröffnungsparty

Wowereit pflegt einen Berlin-Patriotismus, der für den Rest der Republik anstrengend sein mag - aber nach innen wirkt er. Der Tenor ist immer derselbe. Wer meckert, hat Berlin eben nicht verstanden. Ähnliche Reaktionen kommen bei jeder Kritik, die ihm einen Wohlfühlwahlkampf vorwirft. "Wir kümmern uns seit zehn Jahren in dieser Stadt um Inhalte", rotzt er zurück. Da ist einer dünnhäutig geworden, der immer noch damit leben muss, dass die Republik ihn als "Regierenden Partymeister" abgespeichert hat - als einen, der lieber nachts Champagner trinkend im Borchardt herumscharwenzelt, als tagsüber Akten zu wälzen. Als einen, der Küsschen-Küsschen auf dem Berlinale-Teppich gibt, sich aber nicht sichtbar drum schert, dass jedes vierte Migrantenkind die Schule ohne Abschluss verlässt.

"Arm, aber sexy" - es ist dieser Spruch, den ihm viele als zynisch vorwerfen, oder zumindest als Zeichen von Resignation. Dabei beweist der Satz zumindest: Der Mann versteht es, Berlin zu verkaufen. Er ist der Überzeugung, dass das Image der Stadt jenes Eisen ist, das er schmieden muss. Die Touristen strömen, die Stadt ist in der Kunst-, Mode- und Musikszene extrem gefragt. Was jetzt, mitten im Hype um die Stadt, an Wirtschaftskraft eingefangen werden kann, wird vielleicht auf lange Sicht auch bleiben. Also unterschreibt Wowereit eben einen Vertrag mit der Modemesse Bread&Butter und verspricht ihr ganz allein auf zehn Jahre den leeren Flughafen Tempelhof, auch wenn die Messe nur zwei Mal im Jahr stattfindet. Also fungiert er auch gern als Maitre der Eröffnungsparty. Man mag das irritierend finden. Aber man muss nur mal die Hoteliers und Taxifahrer fragen, welche Messe das meiste Geld in die Stadt spült, und das zweimal im Jahr.

Die Leute mögen ihn

Die Berliner jedenfalls, so scheint es, finden das alles überhaupt nicht irritierend. Auch nicht die, die normalerweise nicht bei der Vogue-Party ein- und ausgehen. Lichtenberg, ein kühler Spätsommernachmittag, die Kieztour macht da Station, wo Berlin wehtut. Von Plattenbauten blättert blassblaue Farbe, es ist Markt, die Preise sind klein, ein paar Vietnamesen verkaufen Kunstlederschlappen, und auf der Bühne schrammelt eine Bluesband. Die Leute setzen sich auf Papphocker, es sind Rentner, Säufer, Menschen mit Aktentasche, Arbeits- und Ziellose, Hausfrauen, Jugendliche. Wowereit kommt durch die Menge, schüttelt Hände und lächelt. Er ist in diesen Momenten ganz zugewandt. Da ist keine Scheu. Und keine sichtbare Routine.

Die Leute mögen ihn. Das mag er. Das mögen die Leute. Klaus Wowereit ist sein eigenes Grundsatzprogramm.