Am ersten Prozesstag im Streit um das Stuttgarter Wassernetz bezieht der Richter klar Stellung. Er empfiehlt EnBW und Stadt Stuttgart, wieder zu verhandeln.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Die 15. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart hat am Freitag im Streit um die Rückgabe des Stuttgarter Wassernetzes eine komplexe Antwort gegeben, die letztlich aber die Position der Stadt Stuttgart gegenüber der EnBW stärkt. Sie hat die Parteien ermuntert, sich in der Auseinandersetzung zu einigen.

 

Die EnBW, die bisher das Wassernetz betreibt, ist der Meinung, dass der Verkaufspreis nach dem Sachzeitwert ermittelt werden muss; der Wert des Wassernetzes entspreche dem Preis aller Anlagen in ihrem heutigen gebrauchten Zustand. So kommt die EnBW auf 600 bis 750 Millionen Euro. Die Stadt Stuttgart, die das Wassernetz möglichst schnell wieder selbst betreiben will, rechnet dagegen nach dem Ertragswert, also nach der Rendite, die der Betrieb des Wassernetzes erzielt. Sie will exakt 138,9 Millionen Euro zahlen.

Richter bringt „subjektiven Ertragswert“ ins Spiel

Der Vorsitzende Richter Bernd Schendzielorz ist nun der Ansicht, dass im Grund vom Sachzeitwert auszugehen sei – er neigt also zunächst der Ansicht der EnBW zu. Allerdings sei in diesem speziellen Fall eine Begrenzung vorzunehmen, und das sei der „subjektive Ertragswert“. Denn das Trinkwasserbetrieb sei früher ein hundertprozentiges Tochterunternehmen der Stadt gewesen, und es müsse einer Kommune im Sinne der Daseinsvorsorge möglich sein, das Wassernetz wieder zu wirtschaftlich akzeptablen Bedingungen zu übernehmen. Subjektiver Ertragswert bedeute aber, dass nicht die betriebswirtschaftliche Rendite gelte, sondern der quasi ideelle Wert, den das Wassernetz für die Stadt Stuttgart darstelle. Dieser Preis könne deutlich höher liegen als der Betrag, den die Stadt bisher zu zahlen bereit ist.

Die Rechtsanwälte der EnBW widersprachen dieser Auffassung – das komme einer Enteignung gleich. „Woher nimmt man das Recht, so massiv in privates Eigentum einzugreifen?“, fragte einer der EnBW-Anwälte. Richter Schendzielorz erwiderte allerdings, dass er den Konzessionsvertrag zwischen Stadt und EnBW so interpretiere, dass die EnBW das Wassernetz nur zeitweilig überlassen bekommen habe; es habe sich also nicht um eine vollständige Übertragung gehandelt.

Die EnBW braucht Bedenkzeit

Er appellierte mit großer Deutlichkeit an die Parteien, sich mit der Empfehlung des Gerichtes nochmals an den Verhandlungstisch zu begeben: „Es gibt sowieso einen Strauß von Problemen, die Sie bewältigen müssen. Investieren Sie Ihre Energie und Ihr Geld lieber darin und nicht in diesen Rechtsstreit“, betonte Schendzielorz. Er empfahl den Parteien, ein Gutachten erstellen zu lassen, in dem Sachzeit- und subjektiver Ertragswert beziffert werden.

Nach dieser klaren Ansprache des Richters erklärten sich die Stadt Stuttgart und die EnBW nach einer Bedenkpause grundsätzlich bereit, Verhandlungen wieder in Betracht zu ziehen. Die EnBW erbat sich aber Bedenkzeit bis Ende Januar. Auf Wunsch der EnBW läuft das Gerichtsverfahren vorerst regulär weiter.

Das Beispiel Berlin spricht für Stuttgart

Die zentrale Frage, ob der Ertrags- oder Sachzeitwert beim Kaufpreis anzusetzen sei, hat im vergangenen Jahr auch in Berlin eine große Rolle gespielt – und war im Sinne des Ertragswertes entschieden worden. Dort hatte das Land Berlin 49,9 Prozent des Wassernetzes von RWE und Veolia zurückgekauft. Kathrin Bierwirth, die Sprecherin der Senatsverwaltung für Finanzen, sagte: „Zu beachten ist, dass nicht allein Sachvermögen, sondern Anteile an einem Unternehmen erworben wurden, wofür die Ertragswertmethode die unseres Erachtens übliche Methode der Wertermittlung darstellt“. Da der Verkauf zustande kam, waren RWE und Veolia damit einverstanden.

Wie kompliziert das Verfahren am Landgericht werden könnte, zeigt schon das Ausmaß an produziertem Papier. Die Schriftsätze von Stadt und EnBW umfassten 850 Seiten ohne Anlagen, die die Richter bewerten müssen. Angesichts der komplexen Lage sei die Bearbeitung zügig vonstatten gegangen, sagte der Richter – seit die Stadt die Klage eingereicht hat, sind 18 Monate vergangen. Bereits vor Prozessbeginn haben beide Parteien bereits sechsstellige Beträge für Anwälte ausgegeben.