Herr Kuhn, wie geht es Ihnen?
Mir geht’s gut, ich bin sehr zufrieden mit meiner Lage. Meine Frau und ich verreisen gern. In diesem Jahr waren wir in Portugal und im Baskenland.
Sind Sie heute mit der Bahn gekommen?
Ja, ich fahre in Stuttgart nur noch mit der Bahn. Wir wohnen in Cannstatt sehr gut zwischen zwei Stadtbahnlinien. Wir haben gar kein Auto mehr. Das ist nicht nur öko, das ist einfach nur vernünftig und ökonomisch, auch von der Zeit her, die man einspart.
Woran sehen Sie der Stadt an, dass sie acht Jahre von einem grünen OB regiert war?
Ich bin mir sicher, dass ich die Infrastruktur für nachhaltiges Denken und Handeln stark vorangetrieben habe. Ich habe wesentlich das ÖPNV-Fahren vorangetrieben, mit dem Jobticket bei den städtischen Mitarbeitern habe ich begonnen und die Industrie dazu gebracht, dass sie das auch macht. Wir haben die Tarifreform gemacht, wir hatten im VVS-Gebiet 52 Zonen, jetzt sind es fünf, Stuttgart ist eine davon, eine gigantische Vereinfachung. Dann habe ich mich mit grüner Infrastruktur beschäftigt, dass die Stadt mehr Pflanzen hat, mehr Bäume. Und das Wichtigste ist natürlich der Klimaschutz selber, die 200 Millionen Euro, die wir dafür reserviert haben.
Die Bilanz für 2021 zeigt: Stuttgart ist nicht auf dem Klimapfad.
Das müssen Sie mit meinem Nachfolger besprechen, ich bin seit drei Jahren im Ruhestand. Der Klimaschutz ist aber insgesamt eher ein Marathon als ein 1000-Meter-Lauf. Und mein Credo ist: Politik geht um den feinen Unterschied zwischen Recht haben und Recht bekommen. Die Menschen müssen es ja wollen, das Wort dafür ist Hegemonie. Sie brauchen diese Hegemonie.
Was dachten Sie, als das Klimaziel der Stadt kurz nach Ihrer Zeit um 15 Jahre, also auf 2035, vorgezogen wurde?
Das ist ein Wettlauf: Wer bietet mehr? Wer will’s schneller? Ich finde die Beschließerei von Zielen, ohne dass man gleichzeitig über die Mittel beschließt, ziemlich willkürlich. Du hast bei solchen Zielbeschlüssen auch oft falsche Freunde, die mitstimmen, aber schon drauf spekulieren, dass das eh nicht realisierbar ist.
Der Großteil der nötigen Milliarden für Klimaschutz in Stuttgart muss aber im privaten Sektor mobilisiert werden.
Wenn die Leute sehen: Die Stadt macht das, und ich kriege von der Stadt einen Zuschuss, wenn ich es auch mache, ist das ein Push-Faktor. Ich habe übrigens die Feststellung gemacht: Die Menschen sind eher über den Autarkiegedanken zu bewegen. Wir müssen in eine Situation kommen, wo die Leute, wenn sie Gäste einladen, nicht mehr voller Stolz in die Doppelgarage gehen und den neuesten SUV zeigen, sondern in den Heizungskeller und erklären, wie der Speicher funktioniert, was sie auf dem Dach haben und wie der Wärmewert der Dämmung ist.
Sie sind ja auch Stuttgarter. Sind Sie schon angefixt?
Klar, jeder muss mitmachen. Beim Wohnen können wir nur indirekt beeinflussen, weil wir zur Miete in einem Mehrfamilienhaus wohnen. Die Werte sind nicht schlecht, aber es geht noch mehr. Und dann können wir individuell natürlich noch Gas und Strom sparen. Der Pullover ist erfunden. Richtiges Lüften kann man lernen. Auch in der Ernährung können Sie CO2 vermeiden. Dazu muss man kein Asket sein, nur vernünftig, schwäbisch halt.
Hat es Stuttgart als Automobilstadt in der Transformation besonders schwer?
Stuttgart ist eine Autos produzierende Stadt. Die Transformation in Stuttgart kann nicht am Auto vorbeigehen. Aber Transformation heißt auch, dass der ÖPNV das Normale ist und nicht das Auto. Die Elektromobilität ist dabei wie eine Übergangstechnik. Ich habe mal versucht, zu sagen: Vielleicht ist das E-Auto eine Art Methadonprogramm für die süchtige Autogesellschaft. Das war gewagt, Autos in Stuttgart mit Sucht in Verbindung zu bringen. Aber wenn Sie es als Bild nehmen, als Metapher, dann gibt es vielleicht ein bisschen was her.
Werden Sie noch um Rat gefragt?
Ja. Ich bin in der Bundespartei noch immer für meinen Spruch bekannt, den ich vor 25 Jahren das erste Mal ausgepackt habe: mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben. Ich war immer an der Schnittstelle Ökologie und Ökonomie angesiedelt. Da gibt es schon immer mal wieder Fragen oder Diskussionen. Aber ich dränge mich nicht auf.
Wie füllen Sie Ihre Tage?
Ich mache Sport, Nordic Walking, nette Geschichte. Das habe ich früher als Allgäuer immer für lächerlich gehalten, wenn man mit Stöcken durch den Wald läuft. Aber da ich am Knie ein bisschen Probleme habe, kann ich nicht mehr joggen, ich bin eigentlich ein Jogger. Außerdem mache ich ein bisschen Krafttraining, und ich lese einfach sehr viel. Ohne Verwertungsdruck, ich muss keinen Aufsatz schreiben oder eine Zusammenfassung, ich lese einfach. Und dann machen wir viel Kultur, gehen ins Theater. Das reicht, da ist der Tag schon voll.
Also keine Ehrenämter?
Ich habe ein einziges Ehrenamt, ich bin Vorsitzender des baden-württembergischen Volkshochschulverbandes, und zwar schon seit 2013. Aber darüber hinaus habe ich nichts Neues dazugenommen. Ich habe ganz viele gesehen, die sich in den Ruhestand verabschiedet haben, und die allermeisten haben einen Apparat von fünf Ehrenämtern aufgezählt. Am Ende des Tages haben die volle Terminkalender.
Auf allen politischen Ebenen unterwegs
Herkunft
Fritz Kuhn, Jahrgang 1955, ist in Bad Mergentheim geboren und wuchs in Memmingen auf. An den Universitäten München und Tübingen studierte Kuhn Germanistik und Philosophie. Bereits als Schüler wurde er SPD-Mitglied, wegen der Atompolitik von Helmut Schmidt trat er allerdings wieder aus. Kuhn ist Gründungsmitglied der Grünen in Baden-Württemberg und im Bund.
Politik
Politisch war Kuhn auf allen Ebenen unterwegs. Von 1984 bis 1988 sowie von 1992 bis 2000 war er Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg, jeweils als Chef der Grünen-Fraktion. Von 2000 bis 2002 war er Bundesvorsitzender der Grünen, von 2002 bis 2013 Bundestagsabgeordneter, zeitweise Fraktionsvorsitzender. Von 2013 bis 2021 war er Oberbürgermeister in Stuttgart, der erste grüne OB in einer Landeshauptstadt. ana