Wie lebt man mit Auschwitz? Wenn der Opa von Krematorien erzählt

Jede Stunde kommen 1200 Besucher auf das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz. Foto: StZ/Lorenz

Oswiecim hat ein erfolgreiches Eishockeyteam, ein Menschenrechtsfestival, eine Jugendbegegnungsstätte – und in der Nachbarschaft das Konzentrationslager Auschwitz. Ein Besuch bei Menschen, die die Stadt ihre Heimat nennen.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Oswiecim - Barbara Daczynska (35) kann viele Fragen aufzählen, die man gestellt bekommt, wenn man sagt, man sei aus Oswiecim. Der Ort, den die Deutschen Auschwitz nannten, gehört zu ihr und ihrer Familie. Lediglich zum Studium kehrte sie der heute knapp 40 000 Einwohner zählenden Stadt für ein paar Jahre den Rücken. Erst, um in Lublin Naturphilosophie zu studieren und dann in Krakau Computergrafikdesign. Einer ihrer Lubliner Dozenten fragte damals ganz erstaunt nach einer Vorstellungsrunde: „Ach, an diesem Ort leben noch Menschen?“ Er war und ist mit dieser Reaktion nicht alleine.

 

Zwei Millionen Besucher haben im vergangenen Jahr die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besucht – Tendenz steigend. Die überwiegende Mehrheit macht von Krakau aus einen organisierten Tagesausflug. Die drei Kilometer entfernt liegende Stadt Oswiecim liegt nicht auf ihrer Route. Die Besucher bekommen nichts mit vom Menschenrechtsfestival, das die Stadt des Friedens austrägt, und sie sehen auch nicht die mit politischen Statements bemalten Hauswände. Auf einer geißelt der polnische Papst Johannes Paul II. den Antisemismus.

Ein Kommilitone reagierte in der Vorstellungsrunde damals übrigens begeistert mit einer Gegenfrage: „Du bist von dort, wo auch das Eishockeyteam herkommt?“ Barbara Daczynska hätte ihm um den Hals fallen können. Das T-Shirt der Mannschaft, das sie ihm besorgen sollte, organisierte sie natürlich. „Ich war so froh, dass ich über etwas anderes sprechen konnte als über das Lager“, sagt sie rückblickend.

Holocaust-Überlebender: Am Herz der Welt

Seit 2008 ist sie zurück und arbeitet als Bildungsreferentin in der 1986 eröffneten Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim. Das Haus versteht sich als Vermächtnis der Ermordeten und wurde auf Initiative von Überlebenden als freundlich heller Ort der Begegnung erbaut. Mit einem riesigen Obstgarten. „Du bist am Herz der Welt“, hat der Holocaust-Überlebende Maurice Goldstein über diesen Ort gesagt. Für manche Überlebende ist es noch immer der einzige Ort, an dem sie nachts durchschlafen können. Die Stadt Oswiecim hat das Grundstück zur Verfügung gestellt. Die Volkswagenstiftung und Aktion Sühnezeichen gehören zu den Hauptträgern der paritätisch deutsch-polnisch besetzten Bildungsstätte. Noch treffen Jugendliche hier die letzten überlebenden Zeitzeugen. „Der alleinige Besuch der KZ-Gedenkstätte ist kein Allheilmittel“, sagt Judith Hoehne-Krawczyk (37) von der Begegnungsstätte. Es gehe darum, die emotionale Bedeutung der Geschichte in die Zukunft zu tragen. Am besten geht das mit persönlich Erlebtem.

Barbara Daczynska trägt die Vergangenheit nun mit einem Dokumentarfilm in die Zukunft. „Wissen die Menschen eigentlich, was in Oswiecim geschehen ist?“, fragte irgendwann ihre in London als Fotografin lebende Cousine Magdalena Plewa-Ould. Sieben Jahre befragten die beiden Frauen dann für „Das geheime Netz des Guten um Auschwitz“ über 20 Zeitzeugen – als völlige Dokumentarfilm-Amateure. Denn natürlich lebten schon vor der Zeit der deutschen Besetzung und auch danach wieder Menschen in der über 800 Jahre alten Stadt Oswiecim. Der Film erzählt die weitgehend unbekannte Geschichte der illegalen Hilfe für die Häftlingen des Konzentrationslagers Auschwitz. 1216 Menschen aus dem damaligen Oswiecim haben Brot, Medikamente und Zigaretten zu den Häftlingen geschmuggelt, wenn sie zum Arbeiten aus dem Lager kamen. Und sie signalisierten damit: Euer Schicksal ist uns nicht egal.

Der jüngste Helfer war fünf Jahre alt

Die Menschen, die vor die Kamera getreten sind, waren noch Kinder, als die Nationalsozialisten auf dem Gelände einer alten polnischen Kaserne erst ein Konzentrationslager für politsche Häftlinge, dann das Arbeitslager der IG Farben und schließlich das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau errichteten. Der jüngste Helfer war fünf Jahre alt. Sie nannten ihn Biskuit. Hochbetagte Frauen und Männer erzählen unter Tränen, wie sie ihren Vater oder ihre Mutter in SS-Haft sahen – oder manchmal auch nie wieder sahen. 177 der Helfer kamen selbst ins Lager, 62 überlebten das nicht.

Barbara Daczynska sagt über ihre Heimatstadt dennoch: „Es ist mein Ort.“ Hier habe sie eine schöne Kindheit verbracht, auch wenn sie weiß, „dass er für andere kein guter Ort war“. Zu dieser Kindheit gehört jedoch fast zwangsläufig die Allgegenwärtigkeit des Völkermordes. Es ist das Nebeneinander von Grausamkeiten, Solidarität und Kindheitserlebnissen, das es in Oswiecim auszuhalten gilt. Denn der Name steht für den industriell organisierten Massenmord, das größte aller Menschheitsverbrechen. 1,1 Millionen Menschen wurden dort ermordet. Unzählige Häftlinge mussten in den über 40 Außenlagern Zwangsarbeit leisten. All das ist verwoben mit den Familiengeschichten der Menschen in Oswiecim.

Der Großvater erzählte beim Essen von Krematorien

Die Filmemacherin erinnert sich noch genau, wie ihr Großvater am schön gedeckten Mittagstisch anlässlich der Kommunion ihrer Schwester anfing, von den Krematorien in Auschwitz-Birkenau zu erzählen. „Er ist dieses Trauma bis zu seinem Tod nicht losgeworden“, sagt sie. Eugeniusz Daczynski war 15 Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfiel. Für die Umsetzung ihrer Lagerpläne siedelten sie die ansässige Bevölkerung Oswiecims gewaltsam um. Der Großvater kam illegal zurück und wurde schließlich gezwungen, zusammen mit Häftlingen des Lagers die Anlagen für die IG Farben im Arbeitslager Monowitz zu errichten. Dort erlebt er aus nächster Nähe, wie ausgemergelt die KZ-Häftlinge waren und wie sie von den Kapos geschlagen wurden. Als das Lager am 27. Januar 1945 von der russischen Armee befreit wurde, versorgte er für das polnische Rote Kreuz die entkräfteten Überlebenden. Wenn alle Hilfe zu spät kam, saß er auch einfach an ihrem Bett, um sie beim Sterben nicht alleinezulassen. Auch davon berichtet er im Film seiner Enkelinnen.

„Jede Familie hat Geschichte zu erzählen“, sagt Barbara Daczynska . Was aber tun man, wenn niemand mehr da ist, der erzählen kann? Elisabeta Pasternak (46), ebenfalls Bildungsreferentin in der Begegnungsstätte und auch Guide in der Gedenkstätte Auschwitz, will die zurückgelassenen Gegenstände zum Reden über ihre ehemaligen Besitzer bringen. Über das, was die Häftlinge bei ihrer Verhaftung bei sich trugen, haben die Nazis genau Buch geführt. #StolenMemory“, gestohlene Erinnerung, heißt die Kampagne der Arolsen Archives. Elisabeta Pasternak betreut das Projekt, in dem Schülergruppen aus Oswiecim sich engagieren. Sein Ziel: Die Nachfahren sollen den letzten Besitz der in Auschwitz Ermordeten zurückbekommen. Auch wenn es nicht glückt, die vielen Taschenuhren, Bilder und Füller zurückzugeben, ist Eva Pasternak sicher: Schon der Weg, Dinge zum Sprechen zu bringen, lohne sich. „Man muss neben der großen Geschichte auch die kleinen Geschichten erzählen, um die Erinnerungsarbeit ohne Zeitzeugen in die Zukunft zu tragen.“ Oswiecim werde so seiner Verantwortung gerecht. Sie selbst hat entschieden: „Das mein Platz im Leben ist“.

Ein Häftling baut ein Hospiz

Eugeniusz Daczynski hat die Fertigstellung des Filmes, zu dem er seine Enkelinnen durch sein stetes Erzählen inspiriert hat, nicht mehr erlebt. Er ist 2016 in einem Hospiz in Oswiecim gestorben, das ein KZ-Häftling, der fliehen konnte, dort gebaut hatte. Geld dafür kam aus den Ländern der ehemaligen Achsenmächte Deutschland, Japan und Italien.

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