Durch den Schwarzwald und das Donautal streifen vereinzelt wieder Luchse. Eine Ansiedlung stößt auf Hindernisse.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)
Stuttgart - Der letzte Luchs Baden-Württembergs starb vor 164 Jahren nahe der Ruine Reußenstein auf der Alb. Eine kleine Ewigkeit ist das her. Der Revierförster Marz schoss an jenem 14. Februar 1846 zweimal, die "Bestie", wie es in einer Beschreibung heißt, machte noch ein paar Sprünge und stürzte den Berg hinab. Damit war der Luchs, dieser Jäger auf leisen Pfoten, der mit seinen Pinselohren ein Reh bis auf 500 Meter Entfernung orten kann und nachts sechsmal besser sieht als der Mensch, in unserem Landstrich ausgelöscht. Für immer, wie es lange schien. So stolz war man auf die Trophäe, dass man das Tier ausstopfen ließ. Bis heute staubt es im Rosensteinmuseum vor sich hin.

Doch jetzt ist er zurück, der drittgrößte europäische Beutegreifer nach Bär und Wolf. Der erste Luchs, der sich seit Menschengedenken wieder dem Großraum Stuttgart genähert und vielleicht sogar vor seinem Tod die Ruine Reußenstein passiert hat, ist am Neujahrstag 2007 bei Laichingen auf der Autobahn überfahren worden. Vor allem im Donautal und im Südschwarzwald entdecken Wildtierbeauftragte ab und an eine Fährte im Schnee oder ein Reh, das durch einen gezielten Biss in die Kehle getötet wurde. Nur der Luchs jagt so. Woher die Tiere kommen, weiß niemand. Sind sie aus der Schweiz eingewandert, wo Luchse seit 1971 angesiedelt wurden? Sind sie aus Gehegen geflohen? Oder wurden sie von radikalen Naturschützern illegal freigelassen?

Klar ist jedenfalls: es sind so wenige Tiere und sie leben so verstreut, dass sich derzeit keine stabile Population entwickeln kann. Bis jetzt ist der Luchs in Baden-Württemberg nur Gast und nicht der König des Waldes. "Es ist 18 Monate her, dass wir das letzte Mal einen untrüglichen Hinweis auf einen Luchs hatten", sagt Rudi Suchant. Er ist der Luchsexperte an der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt in Freiburg und leitet die Arbeitsgemeinschaft Luchs, in der sich zwanzig Interessengruppen ein- bis zweimal im Jahr treffen. Darunter sind Behörden, Biologen, Naturschützer, Jäger und Bauern. Es geht kontrovers zu - aber an diesem grünen Tisch entscheidet sich das Schicksal des Luchses im Land, nicht draußen in der Natur.

Die Lebensbedingungen wären vorhanden


Denn der Lebensraum für eine Ansiedelung wäre da, und die Nahrung auch. Der Luchs ist alles andere als anspruchsvoll, im Wald findet er ausreichend Schutz und Beute. Ein bis zwei Rehe reißt ein Luchs in der Woche, bei 100 Luchsen in Baden-Württemberg wären das 7000 Tiere im Jahr. Im Verhältnis zur menschlichen "Jagdstrecke" fällt das kaum ins Gewicht: Jährlich werden im Land mehr als 150.000 Rehe erlegt.

Auch die meisten Menschen erwarten den Luchs mit Freude, wie ein Forschungsprojekt der Universität Freiburg ergeben hat: Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung in Baden-Württemberg hätten ein positives Gefühl, wenn sie an den Luchs denken, sagt die Forstwirtin Angela Lüchtrath. Der geschmeidige Gang, der scharfe Blick, die gelinde Gefahr - das imponiert den Menschen. Selbst Rudi Suchant, der sonst lieber nüchtern die Chancen des Luchses analysiert, gerät ins Schwärmen. Dieser Beutegreifer verändere den "Geschmack einer Landschaft", sagt er: "Ich gehe in der Dämmerung anders durch den Wald, wenn ich weiß, dass ich durch Luchsland streife." Dabei greift ein Luchs den Menschen nicht an.

Warum hilft man also nicht, wie schon im Harz und im Bayerischen Wald, etwas nach, um den Luchs im Ländle wieder heimisch werden zu lassen? Man könnte schließlich Luchse, beispielsweise aus den Karpaten, im Schwarzwald freilassen. Abgewartet wird deshalb, weil sich die Arbeitsgemeinschaft Luchs derzeit zumindest in einem Punkt einig ist: Der Luchs überlebt langfristig nur, wenn alle Betroffenen hinter der Ansiedelung stehen.

Tiere dürfen nicht abgeschossen werden


In der Schweiz wurden über die Köpfe der Jäger und Bauern hinweg Luchse ausgewildert - mit dem Ergebnis, dass im Berner Oberland noch heute immer wieder Tiere abgeschossen werden. Ein gefühlsduseliger und kompromissloser Naturschutz führt, das zeigt die Erfahrung, nicht ans Ziel. Ein erster Erfolg ist es, dass sich mittlerweile alle in der Arbeitsgemeinschaft respektieren und man sich sachlich unterhalten kann.

Die erste Hürde für eine dauerhafte Ansiedelung des Luchses sind die illegalen Abschüsse einzelner Jäger. Der Landesjagdverband selbst versichert, kein strikter Luchsgegner zu sein, der in der Raubkatze nur einen Konkurrenten um "sein" Wild sieht. Das sind alte Feindbilder, längst überholt. Der Verband befürwortet vielmehr die natürliche Einwanderung des Luchses: "Eine Tierart muss stark genug sein, um einen Lebensraum selbst zu besiedeln", sagt Klaus Lachenmaier vom Landesjagdverband. Ansonsten bildeten sich "künstliche Inseln wie im Harz" und es drohe Inzucht. Der Biber, und demnächst wohl der Wolf, schafften diese Einwanderung ja auch.

So lehnen die Jäger nur die aktive Ansiedelung ab. Lachenmaier räumt aber ein: diese Haltung der Jäger entspringe auch einem allgemeinen Unbehagen - man habe es satt, sich ständig von Politik und Naturschutz bevormunden zu lassen: "Wir wollen keine Käseglocke des Naturschutzes, unter der uns alles verboten ist." Er persönlich hätte aber nichts dagegen, einem eingewanderten Kuder, also einem männlichen Tier, ein weibliches Tier zur Seite geben, sagt Klaus Lachenmaier. Könnte das der erste Ansatz für einen Kompromiss sein?

Autobahnen sind eine große Gefahr


Denn mit dem Nachwuchs klappt es bis jetzt überhaupt nicht. Ein Luchs durchwandert ein Revier von rund hundert Quadratkilometern - meistens schafft er es wegen der Autobahnen, Zuggleisen und Siedlungen gar nicht, zu einem Weibchen zu gelangen. Das ist die zweite große Schwierigkeit bei der Wiederansiedelung des Luchses: die Zerschneidung der Landschaft. Alle Beteiligten, auch die Jäger, ziehen deshalb beim neuen Generalwildwegplan an einem Strang. "Am Hochrhein gibt es nur noch drei oder vier Lücken für Wildtiere", sagt Lachenmaier: "Die müssen unbedingt offen bleiben." Sonst ergeht es den eingewanderten Luchsen wie dem Tier bei Laichingen: Sie verenden am Kühlergrill eines Autos.

Die dritte Hürde sind die Interessen der Landwirte. Sie sorgen sich weniger darum, dass der Luchs eines ihrer Schafe reißen könnte - vor einigen Jahren wurde dafür ein Entschädigungsfonds eingerichtet. Vielmehr fürchten die Bauern, dass sie auf ihrem eigenen Grund und Boden bald nichts mehr zu sagen haben. "Der Luchs ist eine geschützte Art. Wenn in einem Wald ein Luchs mit Jungen gesichtet wird, dann könnte es zum Beispiel passieren, dass der Waldbauer kein Holz mehr schlagen darf", sagt Michael Nödel vom Badischen Landwirtschaftlichen Hauptverband.

Die Bauern sehen sich in dieser Hinsicht als gebrannte Kinder. Auch beim Artenschutzprogramm "Natura 2000" war ihnen versprochen worden, dass es nicht zu Einschränkungen komme - jetzt aber dürfe mancher Bauer wegen einer seltenen Vogelart keinen Feldweg mehr bauen, sagt Nödel. "Wenn die EU uns eine Garantie gibt, dann sind wir bereit, neu nachzudenken." Doch das bedeutet: man muss dicke Bretter bohren; es wird Jahre dauern, bis die Probleme gelöst sind - wenn überhaupt.

"Luchsland" - das gibt es bis dahin nur an wenigen Orten im Land. Etwa auf der Bühler Höhe bei Baden-Baden. Hier können Wanderer auf einem vier Kilometer langen Pfad viel über die Lebensweise der Katze erfahren. "Der Weg soll vor allem Kinder für das Tier begeistern", sagt der Revierförster Robert Lang. Für ihn wäre es ein Traum, wenn der Luchs in seinen Wäldern nicht nur als Nachbildung, sondern bald wieder im Original zu Hause wäre. So geht es auch Rudi Suchant: "Wir haben etwas wiedergutzumachen", sagt er - und fügt hinzu: "Klar, wir Menschen brauchen den Luchs nicht. Aber brauchen wir ein Bild von Picasso?"

Weitere Informationen unter:http://www.ag-luchs.de »
http://www.luchspfad-baden-baden.de »