Der vaterlose „Junge von der Waterkant“, der Emigrant, der Ostpolitiker und Verfechter der deutschen Einheit hat bei aller Distanziertheit eine emotionale Leerstelle gefüllt. Der StZ-Autor Mirko Weber erinnert an den ersten Sozialdemokraten im Amt des Bundeskanzlers.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Für Musik war Willy Brandt zu haben. Im Berlin der späten dreißiger Jahre, das er noch einmal unter dem Decknamen Gunnar Grasland vom Exil aus aufsuchte, saß er in Konzerten von Wilhelm Furtwängler, steht in „Links und frei“, seiner Autobiografie der Anfangszeit. Sowieso sang er gern und spielte seit seiner Jugend ein bisschen Mandoline. Wer in den siebziger Jahren politisch sozialisiert wurde, kennt das Bild, auf dem der seinerzeit schon ehemalige Bundeskanzler beim Wandern in Westfalen im Jeanshemd und mit der Filterzigarette im rechten Mundwinkel wie selbstvergessen Saiten zupfte. Fast keine Jugendheimteestube kam ohne dieses Poster aus. Womöglich war Brandts kleine Pose eine späte, stille Antwort auf die Populärattacke des Bundespräsidenten Walter Scheel, der 1974 „Hoch auf dem gelben Wagen“ mit einem Düsseldorfer Männerchor gesungen hatte. Das wurde damals – Schallplatten verkauften sich noch wie warme Semmeln – ein ziemlicher Verkaufserfolg und brachte es auf Nummer fünf der deutschen Charts, die Hitparaden hießen.

 

Natürlich hatte auch Willy Brandt ein Lieblingslied. „Mit den nordischen Freunden“, schreibt Peter Brandt, der älteste Sohn und Historiker in „Mit anderen Augen“, seinem „Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt“, „sang mein Vater deutsche Volks-und Fahrtenlieder.“ Darunter auch „Wilde Gesellen“:

„Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, /Fürsten in Lumpen und Loden, /ziehen wir dahin, bis das Herze uns steht.“ Und dann? „Aus ist ein Leben voll farbiger Pracht, /zügellos drüber und drunter./Speier und Spötter, ihr habt uns verlacht, /uns geht die Sonne nicht unter.“ Da war nun wirklich viel Willy Brandt, geboren als Herbert Ernst Karl Frahm am 18. Dezember 1913 in Lübeck, drin.

Eigentlich war er Journalist

Brandts Lieblingslied mit dem expressionistisch anmutenden Text stammte im Übrigen – die Zeitläufte sind selten geradlinig – aus der Werkstatt von Fritz Socke, der seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mündlich überlieferte Klassiker wandertauglich machte. Seine „Wilden Gesellen“ kamen 1933 auf den Index. Socke wiederum wechselte später zum Schulfunk, der dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach unterstand (und ging dann noch zur SS). Als Schirach bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen 1946 zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde, berichtete Willy Brandt für norwegische und andere skandinavische Zeitungen als Korrespondent. Das war er nämlich eigentlich: Journalist.

Sängerisch in Erinnerung geblieben ist Willy Brandt aber hauptsächlich durch die Ereignisse vom 10. November 1989, als nach langem Hin und Her zwischen regierender SPD/AL-(Alternative-Liste-)Regierung in Berlin und der Bundesregierung in Bonn doch noch eine Kundgebung am Schöneberger Rathaus zur glücklichen Maueröffnung zustande kam, an der ein politisch disparates Männerquartett teilnahm. Hans-Dietrich Genscher, Außenminister, FDP; Helmut Kohl, Bundeskanzler, CDU; Walter Momper, Regierender Bürgermeister, SPD; und Willy Brandt, ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin, Ex-Außenminister (in der Großen Koalition), Ex-Bundeskanzler, SPD. Brandt war also insgesamt alles das schon gewesen, was die anderen einzeln personalpolitisch verkörperten.

Vor dem Schöneberger Rathaus fand Brandt die richtigen Worte

Dem Abend voraufgegangen war eine lange Nacht: Momper schien sichtlich müde; Genscher zeigte sich, wie häufig, diplomatisch höchst auf der Hut. Kohl indes war pampig, weil ihm nach anderer Gesellschaft und weniger Improvisation gewesen wäre. Keiner fand die richtigen Worte. Und Brandt? Rekapitulierte kurz geschickt die Geschichte Berlins von den Nazis bis zu diesem Tag, die auch seine eigene Geschichte gewesen war. Redete leise, aber glühend Europas zukünftiges Zusammenwachsen herbei. Warnte aber auch, dass dies alles nun ein langer Weg sein würde, den man nur in kleinen Schritten gehen könne. Das kannten die Berliner und die Deutschen von ihm als Lebenskredo nur zu gut. Und er gebrauchte ein weiteres Zauberwort aus seiner besten Zeit: Solidarität. Solidarität tue not. Vorher – in einem Interview – prägte er wie nebenbei auch noch eine Formel, die von da an immer mit diesem Tag verbunden sein sollte: es wachse zusammen, was zusammengehöre. Wenige in der alten Bundesrepublik hatten daran derart unverbrüchlich geglaubt wie er, kaum einer hatte mehr dafür getan. Und zwischendurch wurde die (von allen schaurig gesungene) Hymne der Bundesrepublik Deutschland angestimmt, im Übrigen ausgerechnet von jenem CDU-Mann Jürgen Wohlrabe (einst vehementer Gegner von Brandts Regierungspolitik), den Herbert Wehner Anfang der Siebziger als „Übelkrähe“ beschimpft hatte. Historische Kapriole.

Obwohl Willy Brandt an diesem Abend also wieder einmal derjenige war, dem es über alles Gepfeife hinweg gelang, mit seinen Inhalten und seiner Sprachmelodie, die man aus Tausenden raushören konnte, doch noch ein paar würdige Minuten für sein Land vor der Welt herauszuschlagen, wirkte er – wie früher in entscheidenden Situationen – teils auch leicht versteinert, seinem eigenen Denkmal ähnlich: „Irgendwann nachdem er die siebzig überschritten hatte“, schreibt sein zweiter Sohn, der Künstler Lars Brandt, in „Andenken“, habe sein Vater begonnen, „sich älter zu geben, als er war. Vielleicht signalisierte das die Befreiung von lebenslanger Anstrengung. Während die meisten alten Menschen, die noch arbeiten, eher zu betonen suchen, wie viel ihrer Jugendlichkeit sich erhalten hat, schien er auf einmal Freude daran zu haben, den alten Mann zu spielen.“

Als Redner konnte er ganz leidenschaftlich sein

Gleichwohl hatte der alte Mann, schon länger zum dritten Mal verheiratet, nunmehr mit der Historikerin und Journalistin Brigitte Seebacher-Brandt, noch einmal zurück in eine Stimmlage gefunden, die ihn jünger machte, ja: jung. Brandt erinnerte, sobald er nur ein wenig sein Temperament bemühte, tatsächlich mitunter an jenen Berliner Bundestagsabgeordneten der SPD, wie er nach langem Exil in Norwegen und Schweden in der Heimat, dem „schwierigen Vaterland“ (Gustav Heinemann), langsam, aber sicher an Format gewann.

Zum Beispiel, als er am 1. Juli 1953 einen Gesetzesantrag der SPD begründet, der den 17. Juni 1953 zum nationalen Feiertag erklären lassen will. Es ist das Datum des Arbeiteraufstandes in Ostberlin, nach dessen gewaltsamer Niederschlagung Bert Brecht schreiben sollte, vielleicht wähle sich die Regierung der DDR doch besser „ein anderes Volk“. Brandt, damals als gelernter Norddeutscher rhetorisch noch an so gut wie jeden „s-pitzen S-tein s-toßend“, ist ganz Leidenschaft. Er packt, wie er sagt, „nichts in Watte“. Und er ist schon bei einem seiner Lebensthemen, der gesamtdeutschen Frage. „Dafür“, schreibt Rut Brandt, seine zweite, norwegische Ehefrau, in ihren Erinnerungen „Freundesland“, sei Brandt ja zurückgekommen: „um beim Aufbau eines neuen Deutschland dabei zu sein“. Dafür habe er „Macht“ gewollt, ohne „ein Machtmensch“ gewesen zu sein. Ein vermeintlicher Grundwiderspruch, der sich durch Brandts Leben zieht.

Konrad Adenauer erkannte die Bedrohung

Die CDU und namentlich Konrad Adenauer registrieren sehr wohl, dass Brandt, der Anfang der sechziger Jahre seinen Stil stark an einschlägigen amerikanischen Vorbildern, nicht zuletzt an John F. Kennedys Gestus, schult, eine Bedrohung weit über das Klangphänomenologische hinaus darstellt: „Die Unterstellungen wegen des Namenswechseln (Frahm zu Brandt) brachte der rheinische Greis mit der kunstvoll primitiven Kommunikationsfertigkeit weiterhin in seinen Reden unter“, steht bei Lars Brandt. Und Franz Josef Strauß, im Krieg nationalsozialistischer Führungsoffizier, wollte gerne wissen, was Brandt „da draußen“ eigentlich gemacht habe (was man selber getan, wisse man ja). Solche Invektiven nahm sich Brandt weniger zu Herzen als die Verweise auf seine uneheliche Geburt und die vaterlose Jugend. Obwohl sie ihren Mann in anderer Hinsicht konsequent missdeutet, hat Brigitte Seebacher-Brandt wohl recht, wenn sie dies alles als „Prozess der Selbstverschließung“ deutet. So gut er politisch Konturen zeigen konnte, so gerne war Brandt auch im Halbdunkel der (Privat-)Geschichte daheim. „Das Gebrochene“, sagt Lars Brandt, „den inneren Gegensatz“, müsse man als „Batterie begreifen, zwischen deren Polen sich Spannung“ aufbaute.

Für alle seine Ämter musste er mehrmals kandidieren. Brandts Karriere war kein Selbstläufer. Dafür kam er von zu weit draußen – und blieb, trotz allem, was er für Deutschland tat, in Deutschland auch immer ein wenig fremd. Vielleicht prädestinierte ihn aber genau diese Distanz für die Spitze, als die SPD mit der FDP 1969 national politisch zu gestalten anfing, schließlich war das Land durch die Studentenunruhen zum ersten Mal seit dem Krieg in eine ernsthafte Selbstbefragung getreten. Benötigt wurde jemand, der einen anderen Blick entwickelte als die vorhergehende Generation (die sich teils selbst schuldig im Weg stand), jemand, der einen Tonartwechsel herbeiführen konnte. Brandt war vorbereitet. Schon 1960, bevor er als Kandidat gegen Adenauer nominiert wurde, hatte er, in Anlehnung an das schwedische Gesellschaftsmodell, vom Entwurf eines Landes gesprochen, das sich als „Heimstätte des Volkes“ begreifen lasse. Nicht überraschend zählt man in der Regierungserklärung vom Ende Oktober 1969 mehr als vierzig Mal das Wort Reform. „Wir sind keine Erwählten: wir sind Gewählte“, sagte Willy Brandt damals. Es war kein Vierteljahrhundert nach der deutschen Kapitulation vergangen, Adenauer mit seiner Befehlsrhetorik erst zweieinhalb Jahre tot.

„Mehr Demokratie wagen“ – das war nicht selbstverständlich

Von heute aus gesehen mag es sich fast wie selbstverständlich ausnehmen, dass die neue Regierung „mehr Demokratie wagen“ wollte. Seinerzeit war es ein fast ungeheuer wuchtiger Satz. Das Grundgesetz schien mit den neuen Grundsätzen zur Deckung zu kommen. Dass die siebziger Jahre ein in vielerlei Hinsicht bewegtes (und auch buntes) Jahrzehnt werden sollten, nahm hier seinen Ausgang: geändert wurden, um nur ein paar Beispiele zu nennen, die Paragrafen 175 und 218 im Strafgesetzbuch. Frauen wurde die Selbstständigkeit zumindest auf dem Papier leichter gemacht; das Strafrecht wurde reformiert. Das schwarz-weiße Gesellschaftsbild der Republik gehörte der Vergangenheit an.

Freilich war Brandt dem öffentlichen Anspruch, der Zuneigung (Hass gehörte auf der anderen Seite immer dazu), die er hervorrief, auf Dauer nicht gewachsen. Horst Ehmke, der das Kanzleramt leitete, meinte einmal halb ironisch, halb bewundernd, nach einer Rede von Willy Brandt in den frühen siebziger Jahren (als die SPD auf fast fünfzig Prozent der Stimmen gekommen war), hätten die Zuhörer den Vorsatz, bessere Menschen zu werden. Lars Brandt bestätigt das indirekt, ohne die Schattenseite auszublenden: „Persönliche Kontakte forderten ihm etwas ab“, schreibt er. „Menschenmassen, wo Gefühle zu abstrakten Strömen zusammenfließen, gaben ihm Sicherheit und stimulierten ihn. Über sie hingleitend, wie über Gras, blieb . . . die verschlossene Härte des Hauses, das er immer auf dem Rücken behielt, verborgen.“

Der Empathiker Brandt, auch ein Meister des Rückzugs

Einerseits also waren da „starke osmotische Kräfte“, andererseits verschwand hinter der bis zur Erschöpfung verkörperten Empathie auch immer ein Meister des Rückzugs. Es war Willy Brandt gelungen, eine große emotionale Leerstelle im Machtapparat des Landes zu besetzen. Umgekehrt war es aber auch so, dass ihm, nachdem etliche Ziele, darunter das wichtigste, die Ostpolitik, mehr als angebahnt schienen, auffiel, über wie wenig Freiheit er selber noch verfügen konnte. Amouröse Fluchtversuche aus diesem zementierten Zustand wurden der Ehefrau Rut auf Bundeskanzler-Briefpapier als „Blackouts“ gemeldet. Alkohol war ein treuer, oberflächlich Ruhe herstellender Begleiter. Gelegentlich trug Brandts Kanzlerschaft schon auch Anflüge von Zügen des Rock-’n’-Roll-Gewerbes, das gerade zum Pop wurde.

Wie alle Zaudernden der Geschichte – es reicht ein Blick auf Hamlet, von dem er einiges hatte – schaute er sich bis bisweilen zu (oder besser: hinterher), ohne zu verleugnen, wie sehr das Unbewusste oft Regie führt im Leben. Als er 1970 beim Besuch in Warschau vor dem Ghettodenkmal gekniet hatte – eine Geste, die für die langsame Rehabilitierung des Landes mehr bedeutet hat als mancher Vertragspassus –, antwortete er auf Fragen hinterher lakonisch: „Irgendetwas musste man tun.“ Nicht nur in solchen Momenten umwehte ihn, frei von Schuld, ein Hauch von Tragik, der nicht aufdringlich war, peinlich gar. Im Gegenteil, er kleidete Brandt.

Diese Rede könnte man heute noch anhören

Noch einmal die Stimme: jetzt schon ein wenig entrückt, wie er auch reden konnte – leise, singend, schwebend fast, mit vielen Pausen –, als sei das alles auch ein bisschen wie im Traum gewesen, die „Geschichte vom Arbeiterjungen von der Waterkant“, die er sich selber noch einmal erzählte zur Verabschiedung als Vorsitzender der SPD, im Juni 1987. Es war dem ein kleinlicher Streit über eine Postenbesetzung vorausgegangen. Und Brandt konnte starrsinnig sein, wie seine Genossen auch. Trotzdem predigte er noch einmal – ja, er predigte auch – die Hoffnung, weil er sie gelebt hatte, und dass es wichtiger sei, mit den Menschen statt über sie zu reden.

Man kann die Rede heute noch, ja vielleicht gerade heute, in jedem SPD-Ortsverein abspielen, wenn auch nicht ganz ohne Bedenken. Schließlich hat sich – Sentimentalitäten abgerechnet – die SPD, die tendenziell immer rechter geworden ist, nie mehr leichtgetan mit dem älter werdenden Brandt, der immer linker wurde. „Amigo Willy“ halt, wie ihm Felipe González im Oktober 1992 hinterherrief, als den anderen eine richtige Wendung zu seinem Tod nicht einfallen mochten. Willy Brandt hinterließ eine charakteristische Selbsteinschätzung: „Man hat sich bemüht.“ Für seine Verhältnisse war das – eine Hymne. Auch nach seinem Hundertsten ist sie noch zu singen.