Zwei Frauen mit Multipler Chemikalien-Sensibilität Unser täglich Gift

Im Blut von Ute Lindenmaier wurden unter anderem Spuren des Holzschutzmittels gefunden, das sie in den 70er Jahren bei der Renovierung ihres Hauses verwendet hatte. Foto: Andreas Reiner

Die meisten Menschen werden mit der Flut aus chemischen Stoffen fertig, denen wir ständig ausgesetzt sind. Doch bei manchen kapituliert das Immunsystem irgendwann. Zwei betroffene Frauen berichten.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Abends gegen elf parkt Christa Busch ihren 33 Jahre alten Mercedes auf einem Supermarktparkplatz, kurbelt die Sitzlehne in die Horizontale und legt sich schlafen. Dort draußen am Stadtrand kann sie atmen, ohne dass die Lunge brennt, das Herz rast und ihr Körper von der Kopfhaut bis in die Zehenspitzen brennt. In ihrer Wohnung hält sie es nur noch tagsüber einigermaßen aus. Das Gift, sagt sie, krieche durch die Fensterritzen und stecke in den Wänden.

 

Christa Busch heißt eigentlich anders. Weil sie befürchtet, dass es Zeitungsleser geben könnte, die sie stigmatisieren, will sie anonym bleiben. Die 83-Jährige leidet unter Multipler Chemikaliensensibilität (MCS). Medikamente, Duftstoffe, Pestizide, Feinstaub und vieles mehr, was die allermeisten Menschen bis zu einem gewissen Maß problemlos verkraften, machen ihr schwer zu schaffen. Die Krankheit hat sich wie ein unsichtbarer Feind in ihr Leben geschlichen, seit Jahrzehnten bestimmt sie ihren Alltag.

Um ihre Leidensgeschichte zu erzählen, hat sich Christa Busch einen Treffpunkt im Wald ausgesucht. Einem Fremden zu begegnen sei für sie riskant, hatte sie am Telefon erklärt und darum gebeten, am Morgen kein Rasierwasser zu benutzen und keine Kleidung anzuziehen, die nach Waschmittel riecht. Davidoff Cool Water oder die Frühlingsfrische von Ariel, produziert für den robusten Massengeschmack, würden bei Christa Busch bestenfalls Übelkeit auslösen, schlimmstenfalls akute Atemnot. So sitzt der Reporter nun – auch olfaktorisch um Neutralität bemüht – auf einer Holzbank unter Fichten und versucht in Augen zu blicken, die hinter einer Sonnenbrille versteckt sind. Manchmal kullern Tränen unter den dunklen Gläsern hervor, Christa Busch zieht ein Papiertaschentuch aus der Handtasche, tupft sich die Wangen ab und sagt: „Entschuldigen Sie bitte. Es wühlt mich sehr auf, wenn ich über meine Vergangenheit spreche.“

Der Spezialist für Stoffwechselstörungen kann ihr nicht helfen

Als Christa Busch 1970 in einem Stuttgarter Metallbetrieb als ungelernte Arbeiterin anfängt, fühlt sie sich noch kerngesund. Im Akkord lötet sie Wasserleitungen an Badarmaturen, mit einer bleihaltigen Zinnlegierung und einer 260 Grad heißen Flamme setzt sie die Blechnähte. Schutzmasken hält ihr Arbeitgeber seinerzeit für unnötig, stattdessen gibt es für die Löterinnen jeden Tag einen halben Liter Milch gratis.

Bald fühlt sich Christa Busch ständig müde. Dann spürt sie hinter dem rechten Ohr einen Schmerz, der immer stärker wird, bis er sich anfühlt, „als würde mir jemand mit einer Stricknadel in meinen Kopf stechen“, wie sie erzählt. Ihr Hausarzt vermutet einen Zusammenhang mit ihrer Arbeit und überweist sie zu einem Spezialisten für Stoffwechselstörungen. Die Blutanalyse ergibt einen Mangel an dem Vitamin B12, der durch Spritzen behoben werden soll. Dennoch werden die Schmerzen stärker und breiten sich allmählich im ganzen Körper aus. Christa Busch ist häufig krankgeschrieben, im Frühjahr 1978 wird ihr gekündigt.

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Ihr Mann ist stinksauer. Er glaubt, dass sie sich ihre Qualen bloß einbilde: Viele Menschen würden schließlich in Fabriken schuften, ohne ständig über ihre Wehwehchen zu klagen. „Das hat mich sehr verletzt“, sagt sie. Die Ehe zerbricht, Christa Busch steht allein mit ihrer pubertierenden Tochter da. Sie fühlt sich isoliert. Selbst im Kirchenchor, in dem sie seit vielen Jahre singt, hält sie die Gerüche der anderen nicht mehr aus. Zunehmend bereitet ihr auch der Kontakt mit Putzmitteln, Waschgels, Zigarettenrauch und Ähnlichem körperliche Schmerzen.

Ein Fall für die Psychosomatik?

Im August 78 schickt sie ihr Hausarzt zur Behandlung ins Bürgerhospital. Christa Busch stellt sich in der Inneren vor, doch bei der Anamnese kommt die Ärztin zu der Einschätzung, dass die Patientin eher ein Fall für die Psychosomatik sei. „Man hat mich für verrückt erklärt“, erzählt Christa Busch, „dabei war ich bei gesundem Verstand.“ Sie wird mit Medikamenten ruhiggestellt. Heute kann sich Christa Busch nur noch an das Erdbeben erinnern, das am 3. September 1978 frühmorgens die Region erschütterte. „Das Bett wackelte, und ich bekam panische Angst.“

Nach sechs Wochen auf Station schickt man Christa Busch zur Psychotherapie in die Sonnenbergklinik. Während der Gruppensitzungen wird schnell klar, dass ihre Leiden nicht mit Worten gelindert werden können. Es folgt eine jahrelange Odyssee durch das Gesundheitssystem: Christa Busch wird von Internisten, Neurologen, Kardiologen, Urologen und Psychiatern untersucht, bekommt Tabletten verschrieben und Infusionen verabreicht, wird geröntgt, bestrahlt und operiert – doch nach jeder Behandlung geht es ihr nur noch dreckiger.

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Sie beantragt eine Berufsunfähigkeitsrente. Eine kurze Begutachtung, dann steht für den Amtsarzt fest, dass sich ihr Krankheitsbild in keine medizinische Klassifizierung einordnen lasse. In ihrer Verzweiflung schaltet Christa Busch Ende 2002 – fast drei Jahrzehnte nachdem ihre massiven Beschwerden begannen – eine Zeitungsannonce: „Umweltgiftgeschädigte sucht andere Betroffene zum Erfahrungsaustausch.“ Noch am selben Tag ruft die Leiterin der Stuttgarter Selbsthilfegruppe für Umweltkranke (SHU) bei ihr an.

Sie verträgt keine Zusatzstoffe, wie sie in den meisten Lebensmitteln enthalten sind

18 Jahre später. Die SHU-Sprecherin Ute Lindenmaier hat in ihren Garten eingeladen. Früher war die 79-Jährige Gymnasiallehrerin, und noch immer gibt sie ihr Wissen gerne weiter. Zum Einstieg in das Thema spannt Ute Lindenmaier den Bogen von 1947, als in den USA erstmals die gesundheitsschädlichen Folgen von Pestiziden untersucht wurden, bis zu einer kürzlich vom Robert-Koch-Institut vorgestellten Studie, in der es heißt: „Aus der Betrachtung vieler Krankengeschichten entsteht der Eindruck, dass eine frühzeitige umweltmedizinische Versorgung maßgeblich dazu beitragen könnte, zielgerichtete Diagnostik in die Wege zu leiten, um Leidenswege zu verkürzen.“ Solche Sätze, sagt Ute Lindenmaier, „machen mir Hoffnung, dass die Betroffenen endlich ernst genommen werden.“

Seit 2001 leidet Ute Lindenmaier an MCS. Der Auslöser sei vermutlich ein Allergietest gewesen, erzählt sie. Die Liste sämtlicher Symptome, die sie seither spürt, würde locker eine DIN-A4-Seite füllen. Zusatzstoffe, wie sie in den meisten Lebensmitteln zu finden sind, verträgt sie beispielsweise nicht. Und weil sie viele Zähne verloren hat, muss sie den Brokkoli, den Weißkohl und den Salat aus dem Bioladen vor dem Verzehr pürieren: „Eine Kunststoffprothese im Mund würde ich nicht vertragen.“ Was sie zusätzlich braucht – diverse Vitamine und Mineralien –, spült sie mit Grüntee und stillem Wasser runter.

Bei MCS-Betroffenen kapituliert das Immunsystem

Im April war Ute Lindenmaier in der Oberpfalz zur Blutwäsche, seither fühlt sie sich etwas besser. Die Kosten der Behandlung in der Tagesklinik , fast 5000 Euro, musste sie selbst tragen. Immerhin bezahlt ihre private Krankenversicherung die aufwendigen Laboranalysen. In ihrem Blut wurden unter anderem Zink, Blei und Spuren des Holzschutzmittels gefunden, mit dem sie und ihr Mann in den 70er Jahren ihr Eigenheim gestrichen hatten. „Solche Gifte sammeln sich in unseren Körpern an“, sagt Ute Lindenmaier, „bis das Fass irgendwann überläuft.“

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Während gesunde Menschen mit der Flut aus chemischen Stoffen, denen man im Alltag ausgesetzt ist, einigermaßen fertig werden, kapituliert bei MCS-Betroffenen das Immunsystem. Die Gifte lagern sich im Fett- und Bindegewebe, in der Leber und in der Niere ab. In einem fortgeschrittenen Stadium können sie jedes Organ schädigen, was die diffusen Schmerzen im gesamten Körper erklärt.

Ute Lindenmaier sagt, sie habe Glück im Unglück. Ihr Ehemann Otto, der trotz seiner 81 Lebensjahre noch eine robuste Konstitution besitzt, stand und steht zu ihr. Die aufwendige Sanierung des Eigenheims, bei der alle schadstoffbelasteten Baumaterialien entfernt wurden, trug er klaglos mit. Er akzeptiert, dass gemeinsame Urlaubsreisen im Wohnmobil nicht mehr drin sind, seit seine Frau im vergangenen Jahr im Stau auf der A 8 von den Autoabgasen ohnmächtig wurde. Und beim Spaziergang bleibt er unmittelbar an ihrer Seite, damit er sie auffangen kann, wenn sie wieder plötzlich wie eine Betrunkene torkelt. „Ohne meinen Mann wäre meine Lage noch viel schwieriger“, sagt Ute Lindenmaier. Aus ihrer Selbsthilfegruppe seien ihr tragische Schicksale bekannt: „Ich musste auch schon erleben, dass Betroffene den Freitod gewählt haben.“

Die Selbsthilfegruppe als Rettungsanker

Für Christa Busch erweist sich die Selbsthilfegruppe als Rettungsanker. Beim ersten Treffen, das sie 2003 besucht, wird ihr geraten, sich in der Praxis eines Göppinger Umweltmediziners vorzustellen, der auf MCS spezialisiert ist. Am 19. November 2004 attestiert der Arzt Christa Busch „ein ausgeprägtes Krankheitsbild mit starker Überempfindlichkeit auf Chemikalien, Duftstoffe und Rauch: Schon kleinste Mengen dieser Substanzen führen zu einer schweren Gesundheitsbeeinträchtigung der Patientin. Es ist unbedingt erforderlich, dass sie mit diesen Stoffen nicht in Kontakt kommt.“ Christa Busch hat nun schwarz auf weiß, dass sie kein Hypochonder ist. „Dieser Befund war Balsam für meine Seele“, sagt sie.

Noch reicht ihre Kraft, um sich durch den Alltag zu kämpfen, den sie mit monatlich 1207 Euro Rente bestreiten muss. Morgens gegen halb fünf wacht Christa Busch meistens auf dem Supermarktparkplatz in ihrem alten Mercedes auf. Dann fährt sie in ihre Wohnung und wäscht sich mit Kohleseife. Von neun bis zwölf telefoniert sie mit Bekannten aus der Selbsthilfegruppe, ihrer Sozialhelferin oder der Seelsorge. Mittags kocht sie sich Karotten und Kartoffeln, die sie mit etwas Salz und Pfeffer würzt. Manchmal geht sie mit ihrer Tochter spazieren, bevor sie am späten Abend wieder zum Schlafen auf den Supermarktparkplatz fährt. „Ich komme zurecht“, sagt sie. Ihre einzige Angst sei, dass sie irgendwann ein Pflegefall werde und in ein Heim müsse: „Der Geruch von Putz- und Desinfektionsmittel würde mich umbringen.“

Die Stuttgarter Selbsthilfegruppe für Umwelterkrankte ist per E-Mail zu erreichen: shg-umwelterkrankte-stgt@t-online.de

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