Vor 75 Jahren sind große Teile Böblingens bei einem Fliegerangriff zerstört worden. Die Stadtverwaltung und die Kirche laden zu einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung ein.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)

Böblingen - Eigentlich war Böblingen gar nicht im Visier der Alliierten. Die Bomben sollten den Stuttgarter Hauptbahnhof und den Rotebühlbau treffen. Aber ein Pilot setzte eine falsche Markierung – und die Altstadt wurde in der Nacht vom 7. Oktober in Schutt und Asche gelegt. Bei dem Angriff starben etwa 60 Menschen. Zum 75. Jahrestag der Bombardierung Böblingens veranstalten die Stadt und die evangelische Kirchengemeinde ein gemeinsames Gedenken. „Wir stehen für Frieden, Versöhnung und gegen Faschismus ein“, sagt der Kulturamtsleiter Peter Conzelmann. Auf dem Programm stehen ein Gottesdienst, Ansprachen, eine Schweigeminute und zwei Ausstellungen. „Die deutsche Kriegsschuld wird nicht in Abrede gestellt“, betont er außerdem.

 

Für Böblingen war der Angriff ein Wendepunkt: Der mittelalterliche Stadtkern zwischen Marktstraße und Pfarrgasse wurde zerbombt. Zentrale Gebäude wie das Rathaus, die Stadtkirche, der Fruchtkasten und der letzte Flügel des Schlosses lagen in Schutt und Asche. „Die gewohnte Schlossbergsilhouette war plötzlich verschwunden“, erklärt der Stadtarchivar Christoph Florian: „Danach ist das neue Böblingen entstanden.“

„Es ist hier schon ein Thema, aber nicht so sehr“

Nur die Kirche wurde in ihrem Originalzustand wiederaufgebaut. Im Jahr 1952 ist das neue Rathaus eröffnet und 15 Jahre nach der Bombennacht der neugestaltete Marktplatz eingeweiht worden. „Damit hat Böblingen ein Stück Identität verloren“, sagt Peter Conzelmann. Aber anders als in Heilbronn oder Pforzheim seien die Zerstörungen keine Wunde mehr, die noch schmerzen würde: Dies sei in den beiden härter getroffenen Städten noch immer der Fall, so sein Eindruck. „Es ist hier schon ein Thema, aber nicht so sehr“, sagt er.

Am Sonntag, 7. Oktober, beginnt das Programm um 10 Uhr mit einem Gottesdienst, den der Dekan Bernd Liebendörfer leitet. Um 19 Uhr findet in der Stadtkirche ein musikalisches Friedensgebet mit der Pforzheimer Dekanin Christiane Quincke statt. „Als Dekanin einer Stadt mit einem ähnlichen Schicksal wie Böblingen plädiert sie engagiert dafür, aus den Verletzungen der Vergangenheit Kraft für Versöhnung und Frieden zu gewinnen“, heißt es in der Ankündigung. Der Oberbürgermeister Stefan Belz und der Dekan Liebendörfer halten dann um 20 Uhr auf dem Marktplatz ihre Ansprachen. Dazu werden Fotografien vom zerstörten und neuen Böblingen auf die Stadtkirche projiziert. Außerdem sind in der Kirche und im Rathaus zu den Öffnungszeiten weitere Bilder von den Folgen der Bombardierung zu sehen.

Der Gesamtschaden betrug fast 70 Prozent

Die 359 Bomber der kanadischen, australischen und britischen Luftwaffe kamen aus England angeflogen. Bei geschlossener Wolkendecke war keine Sichtortung in der Nacht mehr möglich, mit dem Radar versuchten die Piloten, sich zurechtzufinden. Ein Pathfinder setzte seine gesamte Markierungssalve deshalb über dem Raum Böblingen ab. Von Altdorf über Nufringen, Hildrizhausen und Holzgerlingen reichte die Schneise der Zerstörung. Zwischen 23.55 und 0.50 Uhr fielen 15 200 Stabbrandbomben, 2200 Phosphorbomben, 30 Minen und 300 Sprengbomben auf Böblingen. „Welle auf Welle folgte“, heißt es im Polizeibericht von damals. „Es war eine Schreckensnacht für Böblingen“, schrieb der Meister der Schutzpolizei.

Die Liste der Totalschäden in der Stadt mit ihren damals 10.000 Einwohnern ist lang: 216 Wohngebäude, eine Bank, zwölf Warenhäuser, vier Metzgereien, vier Bäckereien, neun Gaststätten und 19 Handwerksbetriebe sowie ein Rathaus, eine Kirche, eine Schule und eine Fabrik. Mehr als die Hälfte aller Gebäude in der Altstadt wurden bis auf die Grundmauern zerstört. Der Gesamtschaden betrug fast 70 Prozent. Die Bombardierung löste einen großen Flächenbrand aus. Gelöscht wurde mit Seewasser. Aber in der engen Altstadt hatte die Feuerwehr große Schwierigkeiten, zu den Feuerherden zu gelangen.

Es folgte noch ein Angriff

Für die Bevölkerung gab es keine Schutzräume, sie konnten sich nur in ihre Keller zurückziehen, was für viele tödlich endete. Eine Familie in der Marktstraße wurde vollständig ausgelöscht. Zu den rund 60 Toten kamen fünfmal so viele Verletzte. In Sindelfingen starben 16 Menschen bei dem Luftangriff, in Altdorf 13, in Holzgerlingen 12 und in Hildrizhausen sowie Nufringen jeweils einer. Als Folge der katastrophalen Bombennacht wurden in Böblingen Schutzstollen gegraben. Es folgte aber nur noch ein Angriff: Am 19. Juli 1944 nahmen die Alliierten die Klemm-Werke, den Bahnhof und die Kaserne unter Beschuss.

Unbegreiflich sei der Zweite Weltkrieg mit seinen vielen Millionen Toten für die meisten Menschen, sagt Christoph Florian. Mit dem Angriff auf Böblingen werde er konkret: „Auf einmal kamen Bomben auf unsere Stadt herunter“, sagt er. Das sei für die Bevölkerung eine ganz neue Erfahrung gewesen. Zuvor hatte es nur kleinere Angriffe gegeben. Und noch im Ersten Weltkrieg fanden die Kämpfe vor allem auf Schlachtfeldern statt. „Man kennt die Namen der Toten“, sagt der Archivar. Er findet, dass immer wieder an die Bombennacht erinnert werden muss – auch, weil jetzt in Europa Frieden herrscht.