Überall wird der große Aderlass der Popkultur im Jahr 2016 beklagt. Warum eigentlich? Hat der Sensenmann wirklich gewütet wie noch nie? Oder steckt anderes hinter der Empörung auf Facebook und Twitter?

Stuttgart - Lass Dich bloß nie wieder blicken: Diesen markigen Spruch konnte man gefahrlos noch jedem alten Jahr in der Silvesternacht hinterherrufen. Was sich aber in den sozialen Medien zum Abschied von 2016 rührte, war etwas anderes als das selbstironische Eingeständnis, dass auch verpasste Chancen und vertane Möglichkeiten dahin sind. Wut, Frust, Ekel brachen sich da Bahn, die Hassorgel bekam Luft auf alle Pfeifen: 2016 sei ein absolutes Drecksjahr gewesen – weil es uns so viele wertvolle, unersetzliche Pop- und Filmstars geraubt habe.

 

Die Nutzer teilten anklagend noch einmal Fotos von David Bowie, Prince, George Michael, Leonard Cohen, Carrie Fisher, Götz George, Bud Spencer, Manfred Krug, formten überwiegend also Herrenclubs der Dahingegangenen. Und die journalistischen Medien griffen die gereizte Rührung gerne auf, gestalteten ihre Bildergalerien der Gestorbenen üppiger als sonst. Das wiederum bestätigte den Eindruck der Leser, 2016 habe sich der Sensenmann in einem außerhalb von Pest- und Kriegszeiten noch nie gekannten Amoklauf durch die Heldenreihen der Popkultur gemäht.

Pop und Leben sind verknüpft

Natürlich ist diese Interpretation Unfug. Aber sie ist auch mehr als eine Social-Media-Feedbackschleife zum Silvester-Countdown. Bereits im ersten Quartal 2016 wurden ja Todesmeldungen auf Facebook und Twitter mit der Einschätzung kommentiert, dies werde wohl ein ganz schreckliches Jahr. Woraus man zunächst einmal schließen kann: Popkultur dient auch im Zeitalter des digitalen Raubkopien-Überangebots nicht bloß zur Hintergrundbeschallung. Sie ist intensiv mit dem eigenen Lebensempfinden verknüpft.

Hier entlang: von diesen Menschen haben wir 2016 Abschied genommen

Daraus aber wird nun wohl auch 2017 der Jammer entstehen, man erlebe als ohnmächtiger Zeuge einen gnadenlosen Kahlschlag. Denn die sozialen Medien sind längst in den Händen jener etwas Gereiften, die mit Popmusik, Filmen und TV-Serien von Vorgestern groß wurden, die schöne Erinnerungen daran hegen und die Anhänglichkeit aktiv pflegen, sowie in Händen jener mittleren Generation, die sich vom Aktualitätsterror der Chartmaschinerie gelöst hat und auch jenen Pop erkundet, der vor der eigenen Geburt entstand. Doch selbst wenn man einiger Musik der Sechziger, Siebziger und Achtziger ewige Hörbarkeit zutraut, ihre Schöpfer sind nicht unverwüstlich. Da mögen die Rolling Stones und andere noch so erfolgreich die Illusion aufbauen, Achtzig sei das neue Zwanzig: Menschen sind keine Tonkonserven.

Logik hilft da nicht

Bedenkt man, dass das Film- und Musikgeschäft nicht für jeden eine Obstsaftdiät war, dann dürfte einen eigentlich nicht wundern, dass neben dem ganz normalen Abtreten einer Popveteranenriege auch ein paar Berühmtheiten sterben, bevor sie noch so richtig zu den Veteranen zählen. Aber was will kühle Logik schon ausrichten: Im Erschrecken über den Tod von Popstars drückt sich eben nicht nur Trauer um den individuellen Verlust eines virtuellen Lebensbegleiters aus, sondern der Schock der Bewusstwerdung des eigenen Alterns.

Das Phänomen könnte sich sogar noch verstärken: In Gesellschaften mit sich auflösenden Familienbindungen und häuslichen Pflegestrukturen, in denen das Sterben der tatsächlich nahen Menschen an Institutionen übergeben und damit aus dem eigenen Erfahrungsraum ausgegliedert wird, gewinnen die Nachrichten vom Tod der Popstars den Charakter des klassischen Memento Mori. In ihnen tritt zu Tage, was sonst verdrängt wird: die Endlichkeit allen Fleisches.

Wird das Schöne weniger?

Das Jahr 2016 hat allerdings wirklich außergewöhnlich Schreckliches gebracht, eine Verfinsterung der Weltlage, Rückschritte in der globalen Entspannungspolitik, weitere Schäden an der Biosphäre, Zerfallserscheinungen in Demokratien, anhaltenden Terror, ein Bewusstsein globaler Umwälzungen, für die alle derzeitigen Flüchtlingsbewegungen nach Europa nur Vorboten sind. Die schepsen Klagen über ein angebliches Massaker des irren Schnitters in der Popkultur könnten da ein Umwegversuch sein, ein mulmiges Gefühl auszudrücken, das Harmlose und das Schöne, das Poetische und das Bedachte, das Positive und das Verspielten würden gerade insgesamt weniger.