Vor dreißig Jahren eroberte ein buntes Völkchen den Bundestag: die Grünen. Heute sind die Alternativen von damals längst etabliert. Ein Rückblick auf drei Jahrzehnte Politik in Deutschland – in Text und Bildern.

Bonn - Auch historische Orte können ziemlich hässlich sein. Und so ist es beim „Hochhaus Tulpenfeld“, einem typischen Sechziger-Jahre-Gebäude im alten Bonner Regierungsviertel. Dort, wo heute die Bundesnetzagentur ihren Sitz hat, zogen vor 30 Jahren 27 Neulinge in ihre Abgeordnetenbüros. Bei der Bundestagswahl am 6. März 1983 hatten 5,6 Prozent der Bundesbürger den Grünen ihre Zweitstimme gegeben. Also tauchte wenig später im Hochhaus Tulpenfeld, das in Bonn nur als „HT“ bekannt war, eine bunte Gruppe rauschebärtiger Männer und Frauen im alternativen Strickklamotten-Look auf – eine Gruppe aus friedensbewegten Ökologen, Hausbesetzern, ehemaligen Kommunisten, Gorleben-Aktivisten und Startbahn-West-Gegner sowie Frauenrechtlerinnen.

 

„Die haben den Bundestag enorm aufgemischt“, sagt der Crailsheimer Rechtsanwalt Hermann Bachmaier, der im März 1983 für die SPD ebenfalls zum ersten Mal ins Parlament gewählt worden war und sein Büro auch im „HT“ hatte: „Die Grünen kamen mit Blumen, Kakteen und Spruchbändern an und sahen ziemlich schnell ziemlich erschöpft aus, weil sie ja Tag und Nacht Sitzungen abhielten und sich die Köpfe heiß debattierten“. Bachmaier erzählt, dass im „HT“ Welten aufeinanderstießen. In einer der oberen Etagen residierte der CSU-Politiker Richard Jäger, der „Kopf-ab-Jäger“ genannt wurde, weil er für die Wiedereinführung der Todesstrafe eintrat. „Sie können sich vorstellen, wie es war, als Kopf-ab-Jäger plötzlich auf diese Grünen traf“. Das kann man sich tatsächlich ganz gut vorstellen. Vor 30 Jahren gab es zudem noch Ost und West, wenige Hundert Kilometer östlich von Bonn standen sich die Nato und der Warschauer Pakt hochgerüstet gegenüber. Das CSU-Parteiblatt „Bayernkurier“ beklagte, dass die 27 Neuen die „trojanische Sowjetkavallerie“ seien, die nun die Sicherheitslage der westdeutschen Demokratie bedrohe. Dagegen nahm sich der Wunsch des CSU-Innenministers Friedrich Zimmermann recht milde aus. Er verlangte, dass die Geschäftsordnung des Bundestages Krawattenzwang vorschreiben müsse. Otto Schily konnte Zimmermann damit nicht gemeint haben. Der war schon 1983 wie aus dem Ei gepellt – so wie es viele Grüne inzwischen auch sind: „Man erkennt die ja kaum wieder“, meint Bachmaier schmunzelnd.

Die Novizen mussten nach zwei Jahren rotieren

Schily, der später zur SPD wechselte und Innenminister wurde, zählte neben Joschka Fischer, Petra Kelly und Hans-Christian Ströbele zu den bekannten Akteuren der ersten Fraktion. Viele, die damals zu den 27 gehörten, sind längst vergessen. Das liegt auch daran, dass die Novizen nur zwei Jahre lang dem Parlament angehörten und dann für Nachrücker ausschieden. Rotation nannte sich dieses Prinzip, das verkrusteten Strukturen vorbeugen sollte. „Das hat uns eher geschadet“, meint Parteichefin Claudia Roth: „Bis man sich eingefuchst hatte, musste man schon wieder gehen.“ Die Rotation wurde bald abgeschafft.

Eine, die 1985 in den Bundestag nachrückte und ihm mit einer vierjährigen Unterbrechung bis 2009 angehörte, ist Uschi Eid aus Nürtingen. „Als ich 1985 dazukam, war die Zeit der Blumen im Plenarsaal und der Transparente vorbei“, erzählt sie. So wie die Grünen das Parlament verändert hätten, habe eben auch das Parlament die Grünen verändert. Der Anfang im „HT“ und im Plenarsaal sei aber schwer gewesen. Als gestandene Wissenschaftlerin habe sie damit klar kommen müssen, als Schmuddelkind behandelt zu werden: „Da machte jemand bei meiner Rede den Zwischenruf, dass ich mich bitte erst mal waschen solle“. Den Parlamentskollegen habe sie anschließend gefragt, ob er sie überhaupt kenne. „Das war natürlich nicht der Fall. Da hat der erst gemerkt, wie dämlich er sich benommen hatte.“ Dass sie fiese Zwischenrufer zur Rede stellte, erwies sich als genau richtig. „Mit denen konnte man anschließend prima zusammenarbeiten“, sagt Eid.

In der Frauenpolitik waren die Grünen prägende Kraft

Wer sich Eids Erlebnisse vor Augen hält, hat auch eine Ahnung davon, wie es Christian Schmidt zumute gewesen sein muss. Der Hamburger Grüne war der erste Rollstuhlfahrer im Bundestag. Während heute das Wort „Inklusion“ in aller Munde ist, herrschte damals wenn nicht Ablehnung so doch Gedankenlosigkeit im Umgang mit Behinderten vor. Schmidt konnte im Plenarsaal nicht vom Rednerpult aus reden – weil es sich nicht verstellen ließ. Dass es einmal einen Bundesfinanzminister im Rollstuhl geben würde, war damals unvorstellbar. Heute gibt es völlig selbstverständlich höhenverstellbare Rednerpulte.

Nicht nur für die Rechte von Behinderten erwies sich das „HT“ als Wegscheide. „In der Frauenpolitik, in der Ökologie und im Verhältnis von Bürger und Staat waren die Grünen eine prägende Kraft“, sagt Bachmaier. Gewiss hätten sie bei der Ökologie an den SPD-Politiker Erhard Eppler angeknüpft. Doch der Sozialdemokratie wäre es unmöglich gewesen, diese neue Orientierung selbst durchzusetzen. Dafür habe der rechte SPD-Flügel die Ökologie zu stark abgelehnt. Eid meint, dass die Grünen auch Enge und Muff den Garaus machten: „Dass Menschen verschieden sind und verschieden leben, wird heute akzeptiert.“

Wie sehr die 27 Novizen Auftakt zu etwas Neuem sein würden, war damals nicht erkennbar. Dass es passierte, ist erstaunlich, weil die Grünen sich in internem Streit fast aufrieben. Von den 30 Jahren im Bundestag verbrachten sie 23 in der Opposition; und 1990 mussten sie das „HT“ räumen, weil sie an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert waren (nur acht Ost-Grüne blieben im Parlament, weil in den neuen Ländern die Hürde nicht galt). Trotzdem: Die Neugestaltung, die 1983 begann, ist unstrittig und offensichtlich. Landauf landab drehen sich Windräder, viele Firmen verdienen mit nachhaltigen Produkten Geld, im Kanzleramt regiert eine Frau („Wir haben“, sagt Uschi Eid, „den Boden für Frau Merkel bereitet“), der Außenminister ist mit seinem Mann verpartnert, und der Bundespräsident lebt ohne Trauschein mit seiner Lebensgefährtin zusammen.