Der Oppositionsabgeordnete Can Atalay verliert sein Mandat. Das Beispiel zeigt, wie Staatschef Erdogan die Justiz instrumentalisiert, um seine Gegner zu verfolgen. Die Befugnisse des Verfassungsgerichts will er beschneiden.

Das Parlament in Ankara hat dem Oppositionsabgeordneten Can Atalay sein Mandat entzogen. Damit eskaliert ein Streit zwischen dem Obersten Berufungsgericht und dem Verfassungsgericht. Der Fall zeigt, wie Staatschef Recep Tayyip Erdogan die Justiz instrumentalisiert.

 

Atalay, ein bekannter Menschenrechtsanwalt, wurde im April 2022 wegen seiner Beteiligung an den Gezi-Park-Protesten des Frühsommers 2013 festgenommen und zu 18 Jahren Haft verurteilt. Er gehörte zu den sieben Mitangeklagten des Kulturförderers und Bürgerrechtlers Osman Kavala, gegen den die Richter eine lebenslange Haftstrafe verhängten. Trotz des Urteils bewarb sich Atalay im Mai 2023 aus der Haft für die linksgerichtete Türkische Arbeiterpartei (TIP) um einen Parlamentssitz und wurde gewählt. Das war möglich, weil das Urteil gegen ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtskräftig war. Im September bestätigte der Kassationshof, das Oberste Berufungsgericht, die Urteile im Gezi-Park-Prozess und wies einen Antrag Atalays auf Freilassung ab. Atalay rief daraufhin das Verfassungsgericht an – und hatte Erfolg: Die Verfassungsrichter ordneten Atalays Freilassung an, weil die Inhaftierung seine Rechte als Abgeordneter beeinträchtige. Doch der Kassationshof verweigerte die Entlassung Atalays mit der Begründung, der Spruch des Verfassungsgerichts sei verfassungswidrig. Staatschef Erdogan schlug sich in dem Konflikt offen auf die Seite des Kassationshofes und kritisierte die Verfassungsrichter.

„Wir erleben einen finsteren Tag“

Mit dem Entzug des Abgeordnetenmandats stellte sich am Dienstag auch das von der islamischen Erdogan-Partei AKP kontrollierte Parlament gegen das Verfassungsgericht. Die Sitzung im Plenum verlief turbulent. Oppositionsabgeordnete protestierten lautstark gegen die Entscheidung. Atalays Partei TIP schrieb in einer Erklärung auf X, die Nationalversammlung habe sich zum Komplizen eines Justizcoups des Obersten Berufungsgerichts gemacht und die Verfassung außer Kraft gesetzt.

Die prokurdische Oppositionspartei DEM erklärte, die Aberkennung des Mandats sei „ein Putsch der Regierung gegen den Willen der Wähler“. Ali Mahir Basarir von der größten Oppositionspartei, der bürgerlichen CHP, schrieb auf X: „Wir erleben einen finsteren Tag unter dem Dach der türkischen Nationalversammlung, wo die Verfassung, das Gesetz, die Gerechtigkeit und der Wille des Volkes ignoriert werden.“ Ali Babacan, einstiger Wirtschafts- und Außenminister unter Erdogan, der sich 2019 von der AKP losgesagt und eine eigene Partei gegründet hatte, warf der Regierung vor, sie untergrabe die Unabhängigkeit der Justiz und gefährde die Staatsordnung, indem sie die Legitimität des Verfassungsgerichts in Zweifel ziehe.

Harsche Kritik vom früheren Wirtschaftsminister

Erdogan hat Urteile des Verfassungsgerichts schon häufig kritisiert, wenn sie ihm politisch nicht passten. Er sprach sich mehrfach dafür aus, die Befugnisse des Gerichts zu beschneiden. Nun plant der Staatschef eine Verfassungsänderung, bei der es auch um die Rolle des Verfassungsgerichts gehen dürfte. Erdogans Koalitionspartner Devlet Bahceli, Chef der ultrarechten Partei MHP, will das Verfassungsgericht sogar komplett abschaffen.