Anschlagserie in Berlin-Neukölln Der ganz alltägliche Terror

Seit einem Jahr erschüttert eine Serie rechtsextremistischer Anschläge den Berliner Stadtteil Neukölln. Die Opfer sind Politiker, Flüchtlingshelfer, Buchhändler, Künstler. Autos brennen, Steine fliegen durchs Fenster, Menschen werden bedroht. Die Polizei tappt im Dunkeln.
Berlin - Als Mirjam Blumenthal mitten in der Nacht aufwachte, brauchte es einen kleinen Moment, bis sie verstand, was sie sah. Es flackerte. Draußen vor dem Schlafzimmerfenster ging gerade ihr Auto in Flammen auf. Vom Feuer bis zum Fenster des Zimmers, in dem eins ihrer Kinder schlief, waren es ein paar Meter. Der Parkplatz grenzt an die Fassade. Die SPD-Politikerin erinnert sich noch, wie sie mit ihrem Mann aus dem kleinen Reihenhaus stürzte um zu löschen. Das Feuer war schnell erstickt. Aber die Bedrohung ist geblieben. Noch in der Nacht kamen die Spezialisten vom Berliner Landeskriminalamt.
Allen, die im Dunkeln vor dem Autowrack standen, war klar: Auch dieser Anschlag gehört zur Serie. Seit gut einem Jahr geht das jetzt so im Berliner Bezirk Neukölln: Autos brennen, Steine fliegen durch Fenster von Wohnungen und Läden, Treppenhäuser und Fassaden werden beschmiert, Menschen werden bedroht, so genannte Feindeslisten stehen im Internet. Für die Polizei ist es unstrittig, dass sie es mit einer rechtsextremen Gewaltserie zu tun hat. Mehr als drei Dutzend solcher Angriffe sind bekannt geworden. Als die Lage Anfang des Jahres eskalierte, hat der Innensenator eine eigene Ermittlungsgruppe gegründet. Erfolge bisher: null.
Im Internet werden so genannte Feindeslisten veröffentlicht
Die Taten richten sich eine nach der anderen gegen Politiker, gegen Mitglieder der Kirchengemeinde, gegen Flüchtlingshelfer, Läden, Künstler – gegen jeden, der laut wird gegen rechts. Da ist der örtliche Buchhändler, der eine Lesung gegen die rechtspopulistische AfD veranstaltet hat. Kurz darauf zerstören Pflastersteine sein Schaufenster. Einige Zeit später wird sein Auto angezündet. Da ist die Bürgerin, die sich in einer gemeinnützigen Galerie engagiert. Ihr Auto wird abgefackelt. Da ist das Cafe im Erdgeschoss eines komplett bewohnten Mehrfamilienhauses, unter dessen Rollladen in der Nacht ein Brandsatz deponiert wird. Es gibt konzertierte Aktionen wie die in zwei Nächten im Dezember und im Februar, als die Täter die Namen ihrer Zielpersonen mit roter Farbe an jeweils sechs Häuserwände schreiben, daneben die Worte „Rote Drecksau“.
Im Internet veröffentlichen die „Freien Kräfte Neukölln“ mehrere sogenannte Feindeslisten: Darin werden die Adressen von Parteien, Flüchtlingsunterkünften, Hilfsprojekten aufgelistet. Zudem verteilt die Jugendorganisation der NPD eine dieser Karten mit dem Hinweis, es handele sich um „volksschädliche Einrichtungen“. In der Reichspogromnacht erscheint auf der Facebookseite der Neonazis eine Karte mit dem Titel „Juden unter uns!“, auf der die Adressen von knapp 70 jüdischen Einrichtungen in Berlin verzeichnet sind. Politiker äußern sich entsetzt, der Staatsschutz ermittelt, die Webseite wird gelöscht. Aber die Serie der Anschläge geht weiter.
„Die Botschaft ist: wir haben Euch ganz genau im Visier“
Erst in der Nacht zum vergangenen Dienstag hat es wieder gebrannt, gleich zwei Autos gingen in Flammen auf. Zuerst traf es Gabriele Gebhardt, eine SPD-Abgeordnete im Bezirksparlament. Ein paar Minuten später brannte einige Kilometer entfernt das Auto von Christel Jachan. Sie engagiert sich in einem lokalen Bündnis gegen Fremdenfeindlichkeit.
Die SPD-Frau Gebhardt ist mit Blumenthal befreundet. Kurz vor der Tat parkte ihr Auto vor deren Haus. „Es ist doch klar, was die Täter uns damit sagen wollen“, sagt Mirjam Blumenthal: „Die Botschaft ist: Wir haben euch ganz genau im Visier.“ Sie glaubt, dass eine strategische Absicht dahintersteckt, jetzt auch Leute anzugreifen, die in der Öffentlichkeit gar nicht stark in Erscheinung treten. „Es geht darum, Menschen einzuschüchtern.“
Unsere Empfehlung für Sie

Extremismusexperte zu rechter Gewalt in Deutschland „Geschichtsrevisionismus ist wieder en vogue“
Bildung hilft gegen rechte Umtriebe nur bedingt, sagt der Extremismusexperte Anton Maegerle. Der Rechtsstaat muss dem auch entgegentreten.

Chaos in Washington Ansturm auf die Demokratie
Der scheidende US-Präsident Donald Trump ist nur ein Symptom. Demokraten müssen auch in Deutschland stärker für ihre Werte eintreten, fordert StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Verfassungsschutz Wird bald die gesamte AfD beobachtet?
In diesen Tagen muss der Verfassungsschutz entscheiden, ob er die AfD als Gesamtpartei unter Beobachtung stellt. Die Partei würde das unter Druck bringen – und den Machtkampf verschärfen.

Corona-Demonstration in Berlin 31 Ermittlungsverfahren nach Krawall am Reichstag
Ende August besetzen Demonstranten die Reichstagstreppe in Berlin. Rund vier Monate später führt das Landeskriminalamt 31 Ermittlungsverfahren – und es könnten noch mehr werden.

Alexej Nawalny Fünf Monate nach Giftanschlag – Kreml-Kritiker auf dem Weg nach Moskau
Der prominente russische Kreml-Kritiker Alexej Nawalny ist fünf Monate nach dem Giftanschlag auf ihn auf dem Rückweg nach Russland. Doch was erwartet den 44-Jährigen nach seiner Landung in Moskau?

Trostfrauen vor Gericht Japans Vergangenheit wirft Schatten
Ein Gericht in Südkorea spricht ehemaligen Sexsklavinnen Entschädigung zu. Die Folgen des Urteils haben Strahlkraft auf der ganzen Welt, insbesondere auch in Deutschland.