Viele Firmen verstoßen gegen Vorschriften für die Sicherheit ihrer Mitarbeiter. Doch der Gewerbeaufsicht im Land fehlt es an Kontrollpersonal.

Stuttgart - Auf der großen Stadtkarte im Büro von Michael von Koch, dem Leiter der Gewerbeaufsicht im Stuttgarter Amt für Umweltschutz, prangen 15 gelbe Zettel. Jeder steht für einen tödlichen Arbeitsunfall seit 2012. Elf geschahen auf Baustellen, vier in Betrieben. Alle Unfälle wären vermeidbar gewesen, hätten Arbeitgeber nicht gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen. Er fühle sich ziemlich hilflos, sagt von Koch. Es mangele nicht an Vorschriften. Doch wer dagegen verstoße, habe meist nichts zu befürchten, weil das Land beim Personal in der Gewerbeaufsicht spare und Schutzmaßnahmen weder überwacht noch durchgesetzt werden können.

 

Gerade auf Baustellen wird häufig gesetzwidrig mit schweren Lasten hantiert, auf Absturzvorrichtungen verzichtet oder mit nicht gewarteten und mangelbehafteten Maschinen gearbeitet. Das führte im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg zu rund 111 000 Unfällen und 70 Toten.

Festgelegtes Verhältnis von Arbeitsinspektoren zu Beschäftigten

„Es besteht die verbreitete Besorgnis, dass die Arbeitsaufsichtsdienste in vielen Ländern nicht in der Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen“, warnte schon 2006 der Ausschuss für Beschäftigung und Sozialpolitik des Internationalen Arbeitsamts und erinnerte an die festgelegten „vernünftigen Richtwerte“. Diese sahen für „industrielle Marktwirtschaften“ ein Verhältnis von einem Arbeitsinspektor auf 10 000 Beschäftigte vor und ein Verhältnis von 1 : 40 000 für „weniger entwickelte Länder“.

Der Sachverständigenausschuss des Europarats, der sich um die Einhaltung sozialer Standards kümmert, kam 2014 zu dem Schluss, dass sich Deutschland beim Arbeitsschutz zum Schwellenland zurückentwickelt habe. Die Kontrollen wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten landesweit um bis zu 80 Prozent reduziert.

Das Wissen der Ingenieure ist gefragt

Die Wirtschaftsmetropole Stuttgart mit 21 000 Baustellen, 40 000 Betrieben und etwa 400 000 Beschäftigten rangiert demnach auf dem Niveau von Entwicklungsländern. Von Koch hat 2016 ein Verhältnis von 1 : 71 188 ermittelt. Nur 16 Baustellen und 288 Betriebe konnten deshalb inspiziert werden. Statt empfohlener 40 Kontrolleure hatte er nur 23,5 Stellen für die chemischen und metallverarbeitenden Betriebe, die Autobauer Daimler und Porsche sowie den Bausektor, Deponien und Abfallbehandlung.

Das Wissen der Ingenieure ist in der Stadtverwaltung so gefragt, dass sie 70 Prozent ihrer Arbeitszeit für andere Aufgaben aufwenden müssen. Etwa Nachbarbeschwerden wegen Baulärms, den es zu minimieren gilt. Sie unterstützen das Ordnungsamt beim Gesundheitsschutz, gehen in Shisha-Bars und in Bierzelte. Unterm Strich schaut in der Landeshauptstadt nur eine Handvoll Inspektoren vor Ort nach dem Rechten. Die Parkraumüberwachung wird dagegen von 120 Mitarbeitern betrieben. Jan Seidel von der Fachgewerkschaft BTB hat ausgerechnet, dass ein Unternehmer „nur alle 30 Jahre kontrolliert wird“.

Können Kontrolleure ihre Aufgaben „integrativ“ erledigen?

Als Vorsitzender des BTB-Fachausschusses im Land weiß Michael von Koch, dass es in den benachbarten Kommunen und Landkreisen nicht besser aussieht. Die Kontrollen in Baden-Württemberg hätten sich zwischen 2008 und 2016 de facto halbiert auf 1072, kritisiert auch Martin Kunzmann, Landeschef des Deutschen Gewerkschaftbundes. Spardruck mindere den Kontrolldruck. Mit mehr Personal ließen sich die Unfallzahlen senken. Er fordert eine Verdreifachung der Stellen – auf 1500 im Land.

Auch im Wirtschaftsministerium hält man eine „personelle Verstärkung des heute unzureichend ausgestatteten Arbeitsschutzes“ für unabdingbar. Im nächsten Haushalt solle mehr Geld beantragt werden. Das Land habe „den Anspruch, auch im Arbeitsschutz vorbildlich zu sein“. Die Kontrolleure sollen ihre Aufgaben „integrativ“ erledigen. Gewerkschafter von Koch sieht darin lediglich „das Kalkül, das enorme Personaldefizit zu verschleiern“. Das Ministerium weigere sich, genaue Zahlen für die Gewerbeaufsichtsjahresberichte der Länder zu erheben.

Landkreis- und Städtetag wollen das Rad nicht zurückdrehen

Es gab jedenfalls schon deutlich mehr Personal als heute. Doch im Zuge der Verwaltungsreform 2005 war die Zuständigkeit für die Überwachung von 24 Branchen von neun Sonderbehörden beim Land auf die 44 Stadt- und Landkreise übertragen worden mit dem Ziel, dadurch jede fünfte Stelle einzusparen. Während der Umweltbereich zuletzt 225 neue Stellen erhielt, ging der Arbeitsschutz leer aus. Die Stadt Stuttgart reagierte und schuf vier zusätzliche Stellen. Auf den Ausgleich vom Land wartet sich noch. In den Stellenplanberatungen fordern Amtsleitung, Personalrat und Stadträte mindestens zehn weitere Stellen. Gewerkschaftsvertreter und Kontrolleure im Land sehnen sich nach alten Zeiten zurück, als sie unabhängig kontrollieren konnten – wie etwa die Kollegen in Bayern, wo die Gewerbeaufsichtsämter staatliche Behörden geblieben sind. Das Experiment der Kommunalisierung von Aufgaben des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sei gescheitert, sagen die Kritiker. Auch im Koalitionsvertrag ist eine Strukturänderung angekündigt.

Landkreis- und Städtetag sind sich einig, dass mehr Personal benötigt wird. Das Rad zurückdrehen, wollen sie aber nicht. Die Gewerbeaufsicht sei an der Basis gut aufgehoben, durch die Dezentralisierung seien die Kontrolleure näher an den Menschen als früher. Interessenskonflikte sehen sie nicht, man müsse davon ausgehen, dass Bürgermeister und Landräte Kontrollen und Bestrafung nicht verhinderten. Als Vorsitzender des Fachausschusses in seiner Gewerkschaft hat von Koch viele gegenteilige Erkenntnisse.