Familienromane, Flüchtlingsgeschichten und Martin Walsers „Letzter Rank“: Ein Blick in den Literaturfrühling, der gerade begonnen hat.

Stuttgart - Wie fast jedes Jahr ist der Bücherfrühling auch 2017 von Martin Walser eingeläutet worden. In „Statt etwas oder Der letzte Rank“ spricht er „am Rande der Formlosigkeit“ von seinem großen Bedürfnis, geliebt zu werden – im Feuilleton und überhaupt. Im März, zu seinem neunzigsten Geburtstag, erscheinen dann gesammelte Reden unter dem Titel „Ewig aktuell“. „Mir geht es ein bisschen zu gut“ heißt der erste Satz von Martin Walsers „Letztem Rank“: „Wer immer sich einbildet, mein Feind zu sein, er darf zur Kenntnis nehmen, dass ich nicht mehr einholbar bin.“

 

Aber nicht nur Walser zieht „Summe und Bilanz“ seines Lebenswerks: Auffällig viele Autoren bringen in den nächsten Monaten in auffällig wuchtigen Romanen etwas zu Ende. Paul Auster braucht in seinem Mammutroman „4-3-2-1“ 1260 Seiten für die Beschreibung der vier Leben eines Mannes, der er selber sein könnte. Hanya Yanagihara legt mit „Ein wenig Leben“ einen 960-Seiten-Roman über vier Männerfreunde vor, der dich, so die „New York Times“, „verrückt machen, verschlingen und von deinem Leben Besitz ergreifen kann“. Der Norweger Karl Ove Knausgård schließt seinen radikal autobiografischen Selbstentblößungszyklus „Mein Kampf“ mit dem 1200-seitigen Schlussstein „Kämpfen“ ab. Carlos Ruis Zafón schließt seine Barcelona-Saga „Der Friedhof der vergessenen Bücher“ mit einem 950-seitigen „Labyrinth der Lichter“ ab. Elena Ferrante setzt ihre neapolitanische Saga mit der „Geschichte eines neuen Namens“ fort; im Mai folgt dann „Die Geschichte der getrennten Wege“ der beiden Freundinnen, im Oktober die abschließende „Geschichte des verlorenen Kindes“.

Im Kosmos der amerikanischen Provinz

T. C. Boyle schließt nichts ab, nur ein Öko-Glashaus, in dem „Die Terranauten“ zwei Jahre lang für ein soziales Experiment zusammengesperrt werden. Annie Proulx erzählt nach längerer Pause wieder von echten Naturburschen „Aus hartem Holz“: 900 Seiten und drei Jahrhunderte Pionier- und Holzfällergeschichte. Martin Suter knöpft sich in seinem Wissenschaftsthriller „Elefant“ die Gentechnik vor; allerdings ist sein rosarotes Elefäntchen ein bisschen zu niedlich für den harten Stoff. Für Extremerfahrungen muss man andere Bücher lesen: „Circle“-Autor Dave Eggers etwa schickt in „Bis an die Grenze“ eine alleinerziehende Mutter mit ihren Kindern nach Alaska. Rebecca Hunt begibt sich in „Everland“ in die Antarktis, Andrew Miller („Nachts ist das Meer nur ein Geräusch“) folgt einer Alleinseglerin um die Welt.

Die Nobelpreisträgerin Toni Morrison rechnet ein weiteres Mal mit dem Rassismus in den USA („Gott, hilf dem Kind“) ab. Margaret Atwood legt gleich zwei neue Dystopien vor: In „Das Herz kommt zuletzt“ leben Menschen freiwillig im Gefängnis, „Hexensaat“ ist eine Überschreibung von Shakespeares „Sturm“. Scott Fitzgerald, der König der mondänen Jazz-Literatur, schwört in bislang unveröffentlichten Erzählungen „Für dich würde ich sterben“, während Tim Parks („Thomas & Mary“) von einem Paar erzählt, das sich nach dreißig Jahren Ehe entliebt. Große Familienromane werden offenbar überall gern geschrieben und gelesen. Richard Russo („Ein Mann der Tat“) und Bill Clegg („Fast eine Familie“) tauchen tief in den Kosmos der amerikanischen Provinz ein. Der kroatische Autor Miljenko Jergović breitet auf gut tausend Seiten „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ aus, weil „in jeder Familiengeschichte alles Wichtige der Weltgeschichte steckt“. Nicht minder ausführlich erzählt der Filmemacher Chris Kraus in seinem Romandebüt „Das kalte Blut“ von einer schwierigen Dreiecksbeziehung aus der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts. Florian Huber nähert sich in „Hinter den Türen warten die Gespenster“ einer Kindheit in den Fünfzigern, Arno Frank („So, und jetzt kommst du“) erzählt von einer Familie von Hochstaplern, Christoph Hein verknüpft in „Trutz“ die Geschichten eines deutschen und eines russischen Familienclans.

Tiergeschichten über menschliche Probleme

Thomas Brussigs „Beste Absichten“, Birk Meinhardts „Brüder und Schwestern“, Jochen Schmidts „Zuckersand“: Die Schnurren aus der ehemaligen DDR sind noch nicht ganz ausgestorben, aber sie werden doch mehr und mehr von globalen Flucht- und Integrationsgeschichten abgelöst. So erzählt Olga Grjasnowa („Gott ist nicht schüchtern“) von zwei syrischen Flüchtlingen, die sich in Berlin wiederfinden, Hisham Matar von einer „Rückkehr“ nach Libyen. Fatma Aydemir sucht mit „Ellbogen“ ihren Platz zwischen zwei Kulturen; selbst der Wiener Spaßmacher Franzobel wird in „Das Floß der Medusa“ ungewohnt ernsthaft.

Die Musik spielt allerdings anderswo, etwa in Julian Barnes gefeiertem Schostakowitsch-Roman „Der Lärm der Zeit“ oder „Freitags bei Enrico’s“, Don Carpenters unvollendetem Roman über die Beat-Boheme der fünfziger Jahre. Gespannt sein darf man auch auf einige deutschsprachige Autoren. Jonas Lüscher rechnet in „Kraft“ mit der kalifornischen Ideologie des Silicon Valley ab. Roman Ehrlich therapiert in „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ Angststörungen durch Horrorfilme. Lukas Bärfuss will endlich seinen schon lange angekündigten Roman „Hagard“ veröffentlichen, der Schauspieler Stefan Lohse debütiert bei Suhrkamp mit seinem Kindheitsroman „Ein fauler Gott“, Heinz Strunk („Jürgen“) erinnert wieder mal an Hamburger Originale. Die Bloggerin Stefanie Sargnagel („Statusmeldungen“) und Tex Rubinowitz („Lass mich nicht allein mit ihr“) bringen Wiener Schmäh ins Spiel, Eva Manesse („Tiere für Fortgeschrittene“) und die Hundefreundin Alissa Walser („Eindeutiger Versuch einer Verführung“) erzählen in Tiergeschichten von menschlichen Problemen. Lea Singers Roman „Poesie der Hörigkeit“ handelt nicht von Hunden und Katzen, sondern von Benn und den Frauen, und worum es in Konstantin Richters Roman „Die Kanzlerin“ geht, kann man sich nach seiner Satire „Schatz, die Flüchtlinge kommen“ leicht ausrechnen.