Die Grünen wollen den Wählern Lust machen auf einen großen Umbau. „Deutschland. Alles ist drin“, betitelt die Parteispitze ihren Entwurf fürs Wahlprogramm. Das Unbehagen über den oft schwerfälligen Staat wollen sie in Aufbruchstimmung verwandeln. Klappt das?

Berlin - „Eine Einladung“, so hat die Grünen-Spitze ihren Entwurf für das Wahlprogramm überschrieben. Ein „Angebot für die Breite der Gesellschaft“ soll es sein, wie Parteichefin Annalena Baerbock bei der Vorstellung am Freitag sagt. Die Grünen wollen expandieren - und dafür müssen sie mit mehr als Klimaschutz überzeugen. Doch der zugewandt-verbindliche Ton sollte nicht täuschen: Das 136 Seiten starke Programm enthält Konfliktstoff.

 

„Wir freuen uns über den nächsten Streich, den wir heute vorstellen dürfen“, begann Parteichef Robert Habeck gut gelaunt. Eine politische Ära gehe zu Ende. „Große Veränderungen sind nötig, und große Veränderungen finden statt.“ Zu oft werde der Staat als machtlos empfunden und könne die Erwartungen seiner Bürger nicht mehr erfüllen, nicht nur in der Pandemie. CDU, CSU und SPD seien „erlahmt und müde“ nach all den Jahren in der großen Koalition. Das Erscheinungsbild der Republik: „saturiert, müde, wandlungsunlustig, ja mittelmäßig“. Das grüne Gegenmittel: „Eine Vitaminspritze für dieses Land“ - womit er den Entwurf fürs Wahlprogramm meint.

Klimaschädliche Subventionen streichen

Dabei setzen die Grünen auf das, was sie „sozial-ökologische Marktwirtschaft“ nennen, also den Aufbau rechtlicher und finanzieller Rahmenbedingungen für ein klimafreundlicheres Wirtschaften, verbunden mit Unterstützung für die möglichen Verlierer des Wandels. Bahnverkehr und Radwege sollen ausgebaut werden und ein europäisches Schnell- und Nachtzugnetz entstehen. Kleine und mittlere Einkommen sollen über einen höheren Grundfreibetrag bei der Einkommenssteuer entlastet, Gutverdiener durch einen höheren Spitzensteuersatz mehr belastet werden. Hartz IV soll einer sanktionslosen Grundsicherung weichen.

Das kostet Geld, und zwar laut Habeck 50 Milliarden Euro extra, was beinahe eine Verdopplung der Investitionen sei. Die Mittel sollen aus mehreren Quellen kommen. Zum Einen sollen umwelt- und klimaschädliche Subventionen gestrichen werden, die nach Grünen-Angaben mehr als 50 Milliarden Euro im Haushalt ausmachen. In einem ersten Schritt sollen 10 Milliarden Euro wegfallen. Steuerbehörden sollen gestärkt, Geldwäsche härter bekämpft werden. Schließlich wollen die Grünen für Investitionen die Schuldenbremse aufweichen. Die sieht vor, dass Einnahmen und Ausgaben grundsätzlich ohne neue Kredite ausgeglichen werden. „Wir geben zu wenig Geld für unsere Zukunft aus“, meint Habeck. „Schlechtes Internet, schlechte Schulen, wenig Ausgaben in Bildung und Forschung und Zurückbleiben beim Klimaschutz“ - das seien die Folgen.

Eine Änderung der Schuldenbremse würde allerdings hakelig, weil es für die nötige Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag bräuchte. Auf die Linke könnten die Grünen wohl zählen, CDU, CSU und FDP ginge das allerdings ziemlich gegen den Strich. Das könnte auch zum Problem werden in möglichen Gesprächen über eine Regierungsbildung. Weitere Forderungen mit Potenzial für Gegenwind: der Ruf nach einem Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen, Pläne für ein dauerhaftes Bleiberecht für geduldete Migranten nach fünf Jahren, ein reduzierter Mehrwertsteuersatz auch für vegane Milchalternativen oder die Ablehnung des Zwei-Prozent-Ziels der Nato. Dies sieht vor, dass sich alle Mitgliedsstaaten des Militärbündnisses bis 2024 dem Richtwert annähern, mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben.

Endgültiger Beschluss Mitte Juni

Endgültig beschlossen wird das Wahlprogramm erst Mitte Juni beim Bundesparteitag. Die Verfahrenshürden für Änderungsanträge sind bei den diskussionsfreudigen Grünen niedrig, die Zahl der Anträge kann in die Tausende gehen. Doch die Partei ist auch gut organisiert und bereitet solche Termine akribisch vor. Was die Wählerinnen und Wähler von den Grünen zu erwarten hätten, wenn sie ihr bei der Bundestagswahl Ende September ein gutes Ergebnis verschaffen, ist mit dem Entwurf also mehr oder weniger absehbar.

Ganz genau hinschauen werden wohl auch die Aktivisten der Klimabewegung Fridays for Future, die am Freitag bei einem deutschlandweiten Klimastreik protestierten. Der Klimaaktivist Jakob Blasel, der für die Grünen in den Bundestag will, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, der Vorschlag für eine Erhöhung des CO2-Preises sei „viel zu unambitioniert“. Die Grünen wollen den Preis für das Recht zum Ausstoß klimaschädlicher Gase auf 60 Euro pro Tonne im Jahr 2023 erhöhen statt wie bislang geplant 55 Euro im Jahr 2025. „Die Maßnahmen, die einen CO2-Preis ersetzen sollen, sind zahnlos“, sagte Blasel. Das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, könne insgesamt nicht erreicht werden.

Es sind Töne, die die Grünen nicht zum ersten Mal hören aus der Klimabewegung. Vielleicht erklärt das auch jene nachdenkliche Passage zum Ende des Programm, nach 133 Seiten, die vor Lust auf Veränderung nur so strotzen. „Wir können nicht versprechen, dass nach Corona jedes unserer Projekte noch finanzierbar ist. Niemand kennt alle Bedingungen der Zukunft.“ Inhaltlich eine Selbstverständlichkeit, kommunikativ interessant. Baerbock erklärt, das sei Ausdruck einer nachdenklichen Politik, die bereit ist, sich zu korrigieren. Vielleicht. Aber eine Partei, die eine neue politische Ära ausrufen möchte, die solche Hoffnungen wecken will, kann ihre Unterstützer auch tief enttäuschen. Für die Grünen steht viel auf dem Spiel.