Erststimme Cem, Zweitstimme grün – so steht es auf den Wahlplakaten von Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen und Kandidat im Wahlkreis Stuttgart I. Um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, setzt sich der 47-Jährige auch mal in einen Kuhstall.

Stuttgart - Erststimme Cem, Zweitstimme grün – so steht es auf den Wahlplakaten von Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen und Kandidat im Wahlkreis Stuttgart I. Das zeugt von Selbstbewusstsein und Ehrgeiz. Der 47-jährige Uracher mit türkischen Wurzeln will es dem Berliner Parteiurgestein Hans-Christian Ströbele nachtun, der als erster Grüner überhaupt ein Direktmandat bei einer Bundestagswahl erobert hat. Dafür setzt sich Özdemir an einem Freitag auch mal in den Kuhstall, um über die grünen Agrar- und Ernährungswende zu diskutieren. Der Möhringer Demeterbauer Christoph Simpfendörfer hat ihn eingeladen, im Schlepptau den örtlichen Obergrünen und Landtagsabgeordneten Nikolaus Tschenk. Und der präsentiert den Cem, wie ihn fast alle nennen, als „Direktkandidaten“ für den Wahlkreis. Die Rinder im Stall muhen beifällig, der Bewerber setzt die Pointe: „Kühe würden Özdemir wählen“.

 

Dann überlässt er das Feld zunächst dem Landwirt, der im Fall einer Regierungsbeteiligung der Grünen die Wende von der „chemischen Landwirtschaft“ hin zum Ökolandbau einfordert. Simpfendörfer ist ganz in seinem Element, doch die zwei Dutzend Zuhörer sind eigentlich gekommen, um Özdemir zu hören. Auch weil die Agrarpolitik nicht sein Spezialgebiet ist, präsentiert sich der Grünen-Chef zunächst als geduldiger Zuhörer. Erst beim Thema „Veggie-Day“, das den Grünen ein negatives mediales Echo eingebracht hat, wird Özdemir selbst aktiv: „Das ist nur eine Empfehlung, die Vorwürfe, wir wollten einen fleischlosen Tag verordnen, sind absurd.“ Falls die Grünen nach dem 22. September in Berlin mitregieren sollten, das macht Özdemir nach der Fachsimpelei über artgerechte Tierhaltung und die Fragwürdigkeit von Maisanbau für Biogasanlagen klar, würden sie in jedem Fall auch das Ressort für Verbraucherschutz und Landwirtschaft für sich reklamieren.

Das Reizwort Stuttgart 21 umschifft Özdemir elegant

Weiter geht’s zum nächsten Termin. Özdemir, vor vier Jahren dem CDU-Bewerber Stefan Kaufmann im Kampf ums Direktmandat knapp unterlegen und von seiner Partei damals nicht über die Landesliste abgesichert, will es diesmal wissen, obwohl er gemeinsam mit Kerstin Andreae als Spitzenkandidat auf der Grünen-Liste firmiert und ein Mandat daher so gut wie sicher hat. Er ist auf Wochenmärkten präsent, besucht Altenheime, Museen und schwingt das Tanzbein beim Tanztreff Inklusion. Vor allem beim bürgerlichen Klientel in den Filderstadtteilen will er punkten – die Stuttgarter Innenstadtbezirke gelten spätestens seit der Landtagswahl 2011 ohnehin als Hochburgen der Grünen. Özdemir kokettiert auch mit seinem Bekanntheitsgrad als Bundesvorsitzender. Zu gern möchte er diesmal die Nase vor dem „Kollegen Kaufmann“ von der CDU haben. Das dessen Wahlhelfer ihn 2009 als „Berliner“ karikiert hatten, der keinen Bezug zu Stuttgart habe, hat er nicht vergessen. Dementsprechend allergisch reagiert Özdemir, wenn ihm nun der CDU-Landeschef Thomas Strobl attestiert, er sei kein Stuttgarter. Ansonsten verlaufe der Wahlkampf bisher fair.

Im Möhringer Bürgerhaus vor etwa 40 Zuhörern geht’s um das Verhältnis zwischen Stadt, Land und Bund. Während Nikolaus Tschenk und die grüne Stadträtin Beate Schiener die Auswirkungen eines Regierungswechsels auf Baden-Württemberg und Stuttgart erläutern, bleibt der redegewandte Özdemir erstmal im Hintergrund. „Es ist eigentlich fast alles gesagt – nur nicht von jedem“ , beginnt er sein kurzes Referat, in dem er die Themen Mietpreisbremse, Bildungspolitik, Steuer- und Verkehrspolitik sowie Energiewende streift. Nur das Reizwort Stuttgart 21 umschifft er elegant. Beim Sparen falle ihm „ein gewisses Großprojekt in Stuttgart“ ein, so der Parteichef. Seit dem Beschluss des Aufsichtsrats vom März zum Weiterbau des Tiefbahnhofs ist S 21 für die Grünen kein wahlentscheidendes Thema mehr. Der Realo Özdemir denkt lieber in die Zukunft: „Ich will nicht, dass der Verkehrsausschuss Pläne und Kalkulationen der Bahn abnickt, die sich als unvollständig und falsch herausstellen.“

Eine Woche später in der Alten Scheuer in Degerloch: 60 Interessierte löchern den Kandidaten mit kritischen Fragen zur Energiewende, zur Steuerpolitik und Kinderbetreuung. Der Generalist bleibt keine Antwort schuldig. Am Ende gibt’s auch hier den freundlichen Beifall des Publikums. Ob es für das ersehnte Direktmandat reicht, wird sich am 22. September in den Wahlkabinen entscheiden.