Im Esslinger Jugendhaus Komma wird am Wochenende beim ESxSW-Festival der alternative Sound der Region Stuttgart präsentiert. Erkundungen in einer Szene, die der Region gerade ein ganz neues popmusikalisches Image verpasst.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Esslingen - Der Name: eine Anmaßung. Das am Freitag und Samstag im Esslinger Jugendhaus Komma stattfindende regionale Musikfestival ESxSW (ausgesprochen „Esslingen by Southwest“) zu nennen, gehört sich nicht. Weniger, weil der Name geklaut wurde vom texanischen SxSW-Festival – sondern vielmehr, weil beim Original „South by Southwest“ im Frühjahr regelmäßig jene Bands auftreten, über die man den Rest des Jahres über redet. Jetzt auch in Esslingen. Sind die größenwahnsinnig geworden?

 

„Du gehst falsch in der Annahme, dass wir das ernst meinen“, sagt Jörg Freitag. Der 42-Jährige sitzt im ersten Stock der einstigen Tuchfabrik, an den Wänden rund um den imposanten Holztisch hängen Dutzende Konzertplakate. Die meisten Abende haben Freitag und seine Mitarbeiter selbst veranstaltet. Der musikalisch beschlagene Sozialpädagoge ist seit 2002 so etwas wie der Popkulturchef im Komma. Man habe bei dem Festivalnamen ein „charmantes Wortspiel“ gewählt, sagt Freitag. Esslingen biete sich für Wortspiele („Stresslingen“) an, ergänzt der Co-Organisator Fabian Zeh. Und weil sie im Komma den Diskurs pflegten, gehe der ironisch gebrochene Name des Festivals in Ordnung.

Drei Fakten zur Musikszene

Über die alternative Musikszene in Esslingen und drum herum muss man drei Dinge wissen. Erstens: sie besteht aus rund dreißig Bands; manche Musiker spielen in mehreren Combos und veranstalten mit wieder anderen Gruppen selbst Konzerte. Zweitens: Jörg Freitag und seine Mitarbeiter im Komma sowie der bisher am Stuttgarter Nordbahnhof, jetzt im Theater Rampe aktive Kulturbetrieb „Für Flüssigkeiten und Schwingungen“ buchen Bands, die in ihrer Szene angesagt sind und sonst im Leben nicht in der Region Stuttgart spielen würden. Gruppen wie Bad Religion oder Gossip treten heute vor Tausenden Leuten auf. Vor Jahren spielten sie neben anderen, denen der Durchbruch verwehrt blieb, für ein paar Eingeweihte – im Komma.

Das Komma ist ein Zentrum der regionalen Musikszene. Foto: Horst Rudel
Der dritte wichtige Fakt zur hiesigen Popkultur: da geht momentan unglaublich viel. Die Speerspitze bilden Die Nerven und Die Selektion. Bis vor Kurzem hatten sie den gleichen Bassisten. Daneben verbindet die Bands, dass sie in den Noiserock- und New-Wave-Szenen abgefeiert werden – weltweit. Die Nerven haben jüngst eine Platte auf dem traditionsreichen Label Amphetamine Reptile Records herausgebracht, Die Selektion touren mit ihrer düster stampfenden Tanzmusik durch Europa.

Die beiden Bands sind die Spitze des Eisbergs. Darunter: ein ganzes Netz an Musikern, DJs und Konzertveranstaltern, die alternative oder Subkultur machen. Im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte Musik von Leuten, die über die Pophistorie bestens Bescheid wissen. Man trifft sich, spielt und feiert an Orten wie der Künstlerkolonie Contain’t am Cannstatter Güterbahnhof, in Stuttgart bei Second Hand Records, in der Dresden Bar oder im Kap Tormentoso. Die Manufaktur in Schorndorf ist ein Anlaufpunkt. Oder eben das Esslinger Komma. Dort, sagt Jörg Freitag, schaffe er mit geringem Budget „Raum für Experimente“. Selbstredend sei das oft „kommerziell nicht verwertbar“. Eines dieser Experimente heißt Ursus. Das Trio steht musikalisch nicht im Zentrum der Szene, musiziert aber an dem Ort, an dem sich die meisten aktuell angesagten Bands formiert haben – in dem neongrell erleuchteten Proberaum des Komma. Die Musik ist ebenso überdreht wie das Outfit. Trash kann man das nennen, bewusst erzeugten „Müll“: Bei der Probe will man „hart abtrashen“, hat die Keyboarderin Elena Wolf angekündigt.

„Hart abtrashen“ im Neonlicht

Tatsächlich plaudern die drei Kostümierten ziemlich ernsthaft über das, was sich gerade in und um Esslingen abspielt. Das Komma sei „kein typisches Jugendhaus, in dem nur Dorf-Metal-Bands spielen“, sagt Wolf. Vielmehr konstituiere sich die Szene aus „Mittelstadt- und Umland-Hipstern“. Als Hipster bezeichnet man Leute, die sich mit ihrem Stil abheben wollen. So gesehen, sind viele der Bands, die beim ESxSW auftreten werden, Hipster.

Kevin Kuhn will sich dieses Label nicht anheften, spielt aber mit vier Gruppen beim ESxSW; Die Nerven sind die bekannteste. Beim Treffen im Kap Tormentoso verkriecht er sich unter seine Fellmütze und erklärt, dass die Musik aus ihm einfach herauskomme. Dann erzählt der 24-Jährige, wie er in dem inzwischen geschlossenen Konzertwaggon am Nordbahnhof in die Szene eingeführt wurde. Davor habe er im Kinderzimmer Musik gehört.

Während Kuhn redet, ist Luca Gillian, der Sänger von Die Selektion, ganz entzückt, dass die Hintergrundbeschallung im Kap von Bands wie Bauhaus und The Smiths kommt. Welche Musik sie selber machen, können Musiker für gewöhnlich schwer formulieren. „Kaputt und hart“, auf dieses Label für ihre Szene können sich Kuhn und Gillian einigen. Die Musik lehnt sich an Altes an und ist ihrer Zeit doch voraus. Auch die Kritik ist überzeugt: Die Nerven entwerfen „ein zwar hochnäsiges, aber doch gerechtes Bild ihrer Generation“, schreibt das Popmagazin „Spex“. Die Selektion wurde im Szenesender Flux FM als „beeindruckend stilsicher“ bezeichnet.

Wenn man annimmt, dass Musik auch von dem Umfeld geprägt ist, in dem sie entsteht, darf man überrascht sein. Die Region Stuttgart steht popmusikalisch bis dato für Hip-Hop, man kennt Die Fantastischen Vier, Max Herre und Cro. Was jetzt aus der alternativen Szene kommt, ist viel rauer. Wie kann das sein in einer Region, die zwar mehr als zweieinhalb Millionen Einwohner hat – aber kaum großstädtische Bezirke, die man klassisch mit Subkultur und alternativem Lebensgefühl verbindet?

Esslingen, das neue Weilheim?

Die Suche nach den Spuren der Stuttgarter Subkultur führt noch einmal ins Komma. Der 31-jährige Fabian Zeh, der dort Konzerte veranstaltet, sagt: „Du bist ein Nerd, wenn nur drei oder vier Leute in deinem Ort dasselbe cool finden wie du.“ Wer im Dorf als schrullig gilt, wird in der alternativen Szene aber oft freundlich aufgenommen. Ohnehin, fügt Jörg Freitag hinzu, müsse man nicht aus einer Großstadt kommen, um cool zu sein. Erst recht nicht in Zeiten des Internets. Und: der deutsche Pop ist traditionell föderal. Jörg Freitag nennt eine oberbayrische Kreisstadt als Beispiel: „Früher kamen die coolen Musiker aus Weilheim“, sagt er. Die 20 000-Einwohner-Stadt war Ende der Neunziger ein Zentrum der internationalen Indie-Szene, geprägt von The Notwist und Console.

Sind Esslingen und Stuttgart das neue Weilheim? Wird da gerade Geschichte geschrieben? Zumindest wäre diese Geschichte gut dokumentiert. Zum ESxSW erscheint der Sampler „Von Heimat kann man hier nicht sprechen“, auf dem 12 der 18 Festivalkünstler vertreten sind: der Sound der Region Stuttgart, die neue ES-Klasse.

Mit dem Gedanken, die Geschichte der alternativen Musik mitzuschreiben, könnten sich die Organisatoren anfreunden. Parallelen zu Weilheim oder berühmten westamerikanischen Schmelztiegeln der Subkultur wie Portland, Seattle und Olympia sind vorhanden: Die Szene arbeitet eng zusammen und bekommt regelmäßig Anregungen aus dem Rest der Welt serviert. So gesehen, ist der Name Esslingen by Southwest nicht nur anmaßend und ironisch, sondern einfach ein bisschen wahr.