Das Stadtpalais, das neue „Museum für Stuttgart“ verschweigt im Titel verschämt, dass es eine historische Sammlung zeigt. Dabei ist sie so modern und anregend, wie man es bisher selten erlebt hat.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Schon der Begriff wirkt angestaubt: Geschichte. Das klingt altbacken, unsexy, zum Gähnen. Wohl deshalb hat man beim neuen Stadtpalais, dem „Museum für Stuttgart“, im Namen schamhaft unterschlagen, worum es doch eigentlich geht: die Historie der Stadt. Dabei entfürt die Dauerausstellung „Stuttgarter Stadtgeschichten“ zum Beispiel ins ausgehende 19. Jahrhunderts, als gerade das erste Stuttgarter Telefonbuch herauskam, das bescheidene achtzig Anschlüsse umfasste. Wobei man sich die Nummern auch gut im Kopf hätte merken können – sie waren dreistellig.

 

Nach langem Vorlauf wird an diesem Wochenende endlich das Stadtpalais eröffnet, das, wie gern betont wird, zu „aktuellen Fragen der Gegenwart“ Stellung nehmen, ja sogar „die Zukunft der Stadt denken“ will. Dabei muss sich die Vergangenheit im Haus keineswegs verstecken, denn so frisch und lebendig, so heutig und kurzweilig hat man selten eine historische Ausstellung erlebt. Die Sammlungsleiterin Edith Neumann und ihr Team haben in den in freundliches Tageslicht getauchten Räumen einen äußerst spannenden Parcours inszeniert. Der ist weder dröge chronologisch, noch auf Zahlen und trockene Daten fixiert. Statt wie so oft den Blick auf Politiker, Regenten, Territorien und Systeme zu richten, wird hier der Vielschichtigkeit des menschlichen Miteinanders nachgespürt.

Kulturgeschichtliche und Einzelschicksale fließen ineinander, technische Errungenschaften und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Architektur, Kunst, Freizeit, eben alles, was diese Stadt ausmacht – Kriegsheimkehrer und Gaisburger Marsch, Arbeiterbewegung und Let’s Putz, Wagenfeld-Design und Parkschützer.

Es gibt nicht nur Texte und Objekte, sondern auch Filme, Tondokumente und Musik

Anstelle eines vorgegeben Rundgangs flaniert man an Themeninseln vorbei, bei denen es um Elektrizität, Pressefreiheit oder den Zoo geht, um die RAF oder Fußball. Überall will sich die Aufmerksamkeit verhaken, weil die Objekte, Medien und Erzählformen so vielfältig sind. Klappen und Schubladen dürfen geöffnet werden, es gibt Filmausschnitte, Tondokumente, Musik. Hier erzählt jemand von Kindheitserlebnissen im Nill’schen Tierpark, der um die Jahrhundertwende eines der beliebtesten Ausflugsziele in Stuttgart war. Dort hört man die 17-jährige Hannelore, die Tante und Onkel in der Stuttgarter Weißenhofsiedlungbesucht und deren neue Küche kommentiert – eine Passage aus dem 1932 erschienenen Roman „Hannelore erlebt die Großstadt“ von Clara Hohrath.

„Hallo Schlossplatz, guten Morgen“ singt der Liedermacher Thomas Friz. Das ist kurzweilig und entspricht dem, was der Direktor Torben Giese mit „Edutainment“, informierender Unterhaltung, bezeichnet, aber es ist doch mehr als das. Letztlich wird bewusst nicht mehr die Geschichte der Macht erzählt, weshalb die Sammlungsleiterin Edith Neumann auch weniger auf Urkunden, Dokumente und alte Folianten setzt. Es wird vielmehr versucht, die Perspektive der Bevölkerung einzubeziehen und sie mit Hilfe oft überraschender, alltäglicher Objekte darzustellen. Da taucht der erste Stuttgarter Bahnhof auf einem Teller auf oder ziert der Schlossplatz ein historisches Schreibmäppchen. Man hat sogar den großen, geschwungenen Türschlüssel der Römerschule aufgetrieben, die 1890 eingeweiht wurde. Oder die „Stoffsammlungen für den naturgeschichtlichen Schulunterricht“ – sie sollten den Kindern Ende des 19. Jahrhunderts den Unterschied zwischen Vorgarn, Streckband und Kardenvlies vermitteln.

Auf den Spuren interessanter Stuttgarter

Immer wieder erinnert die Ausstellung auch an interessante Persönlichkeiten, sei es an den Turnlehrer Johann Trefz, der 1868 in Stuttgart die erste private Mädchen-Turnanstalt gründete und das erste Fahrrad, ein Veloziped, besaß, weshalb er als Hexenmeister verschrieen war. Oder auch Henriette Arendt, die erste Polizeiassistentin Deutschlands. Ernst Weiss überlebte 1941 als Einziger den Transport, mit dem Behinderte aus der Stadt gebracht wurden. Durch ein Guckloch kann man eine seiner Zeichnungen entdecken, auf der er einen der roten Busse gemalt hat, mit denen die Menschen weggeschafft wurden.

So begnügt sich diese Ausstellung nicht mit Erwartbarem, sondern denkt immer einen Schritt weiter oder gar um die Ecke. Die Einführung der Elektrizität in der Stadt wird verbunden mit der Silberhochzeit von König Wilhelm II. von Württemberg und Charlotte, bei der die Presse den „Glanz tausender elektrischer Birnen“ bejubelte. Die fröhlich rote „Luminal“-Schachtel erinnert dagegen daran, dass mehr als fünfzig behinderte Kinder in Stuttgart während der NS-Zeit mit dem Medikament getötet wurden.

Letztlich ist es ein Vorteil, dass es keine bestehende Sammlung gab

So erweist es sich im Nachhinein als enormer Vorteil, dass das Stadtpalais auf keine bestehende Sammlung zurückgreifen konnte (oder musste), sondern ein Neubeginn möglich war. Während frühere Generationen meist künstlerisch oder materiell wertvolle Objekte zusammentrugen, sind in die Sammlung Dinge unterschiedlichster Provenienz und Bedeutung gelangt, sei es die Skulptur einer Bulldogge, die einen Stuttgarter Hugendubel-Schirm im Maul hält, das Hotelsilber aus dem ehemaligen Hotel Silber oder das Logo des schwulen Cafés Jenseitz. Es hätte auch Material gegeben von den Völkerschauen im Nill’schen Tiergarten, für die Menschen aus Somalia, Samoa oder Sudan nach Europa verschleppt wurden. Ein Guckloch macht im Stadtpalais neugierig – und vermittelt wie beiläufig eine postkoloniale, kritische Sicht. Doch statt eines Fotos der Hinweis: „Wir zeigen aus Respekt vor jenen Menschen keine Fotos dieser Vorführungen.“

In der Sonderausstellung „Sound of Stuttgart“ kann man das Gehör schulen und lauschen, wie Drohne, Fahrrad und Elektroauto am Marienplatz klingen oder der Club Climax nach der Sperrstunde. Im Zukunftslabor „Stuttgart und Du 2038“ darf spekuliert werden, ob in Stuttgart in zwanzig Jahren noch immer die Automobilindustrie das wichtigste Standbein sein wird.

Dass das neue Stadtpalais aber ganz auf der Höhe der Zeit ist, das verrät es am überzeugendsten in seiner historischen Ausstellung, die endgültig mit dem alten Slogan „Stadt zwischen Wald und Reben“ und dem Kehrwochen-Image aufräumt. Stuttgart präsentiert sich hier als offene, moderne und sympathisch selbstbewusste Großstadt – passend zum Zitat von Joachim Ringelnatz, das man auf einer Jutetasche lesen kann: „Stuttgart ist schön, gegen dieses scheiß München ein Paris.“