Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Er sei ein Fan alter Technik, sagt Ralv Milberg, 36. Einer, der lieber an Knöpfen dreht, als sich durch die Menüs neumodischer Digitalgeräte zu klicken. Einer, der Geräte aus den Achtzigern für ihren „so schön künstlich“ klingenden Halleffekt liebt. Und einer, der in der Musik nicht nur die Töne hört, sondern „Schwingungen, Farben und Bewegung“.

 

Milberg schwärmt von seinen Geräten – und von seiner Nachbarschaft. Dass er hier, mitten in einem Wohngebiet, Rockmusik aufnehmen kann, sei den Bewohnern dieses Viertels zu verdanken. Etwa dem Mann im Unterhemd, der abends zum Trompetespielen ans Fenster tritt. Oder der italienischen Großfamilie, bei der allein die Mama mit ihrer südländischen Temperamentsstimme genauso viel Lärm erzeuge wie Milbergs musizierende Studiogäste. Im Viertel beschwert sich keiner, wenn in Milbergs Studio mal wieder höllisch laut gerockt wird. Heslach, der Geburtsort der Fantastischen Vier, eignet sich offenbar bestens als Brutstätte für innovativen Pop.

Ralv Milberg ist ein Soundfetischist. Vor der Arbeit klärt er stets drei Fragen. Erstens: Wie soll das Album klingen? Zweitens: Wie nimmt man es auf? Drittens: Welches ist der richtige Raum dafür?

Eine Sprecherkabine nach ARD-Norm

Für das neue Die-Nerven-Album hat Milberg die, wie er sagt, von ihm gefühlte Bewegung eingefangen: Zu diesem Zweck klemmte er dem Gitarristen Max Rieger und dem Bassisten Julian Knoth Mikrofone an die Gitarrengurte und forderte sie auf, beim Spielen im Raum herumzulaufen. Milberg sagt, dass sich dadurch „die Phasenrelation im Gitarrenmix ändert“. Anschließend bekam Rieger ein selbst gebasteltes Mikro in die Hand gedrückt, mit dem er sich beim Singen auf dem Boden wälzen sollte – in einer bis zur Decke gefliesten Küche der Ebersberger Sägemühle in Oberrot, weil nur so und nur dort Riegers Stimme perfekt aufgenommen werden könne.

In anderen Fällen benutzt Ralv Milberg eine selbst gebaute Sprecherkabine nach ARD-Norm von 1972. Milberg sagt, er liebe die „normierte Hörbuch-Akustik“ des nicht perfekt schallgedämmten Raums – die er mit einem seltsam geformten Kleinmembran-Mikrofon von einem Kleinsthersteller aus dem Odenwald unterstreicht. „Ich glaube sogar, dass einzelne Kabel einen speziellen Sound haben.“

Diese Wahrnehmung beschränkt sich nicht nur auf Stuttgart: Bands wie Die Wirklichkeit aus Solingen, Friends of Gas aus München oder Messer aus Münster vermitteln dasselbe triste Lebensgefühl. Und Tocotronic aus Hamburg, seit den 90er Jahren die deutsche Vorzeige-Independent-Band schlechthin, gibt sich im Video zum Song „Angst“ als Die Nerven aus und tritt in einem eichegetäfelten Jugendhaus auf – eine Hommage der norddeutschen Etablierten an die südwestdeutschen Newcomer.


In der Möhringer Straße 83a war einst eine Dreherei untergebracht, später wurden hier Pornos gedreht. Nun beherbergen die 80 Jahre alten flachen Gebäude, die um einen engen Hof herum angeordnet sind, unter anderem die Milberg Studios. Im Erdgeschoss sind zwei Aufnahmeräume, das Obergeschoss ist bis unter das Dach voll mit Equipment: Bass- und Gitarrenverstärkern, analogen Effektgeräten, einem in seine Einzelteile zerlegten Schlagzeug.

Der Soundfetischist

Er sei ein Fan alter Technik, sagt Ralv Milberg, 36. Einer, der lieber an Knöpfen dreht, als sich durch die Menüs neumodischer Digitalgeräte zu klicken. Einer, der Geräte aus den Achtzigern für ihren „so schön künstlich“ klingenden Halleffekt liebt. Und einer, der in der Musik nicht nur die Töne hört, sondern „Schwingungen, Farben und Bewegung“.

Milberg schwärmt von seinen Geräten – und von seiner Nachbarschaft. Dass er hier, mitten in einem Wohngebiet, Rockmusik aufnehmen kann, sei den Bewohnern dieses Viertels zu verdanken. Etwa dem Mann im Unterhemd, der abends zum Trompetespielen ans Fenster tritt. Oder der italienischen Großfamilie, bei der allein die Mama mit ihrer südländischen Temperamentsstimme genauso viel Lärm erzeuge wie Milbergs musizierende Studiogäste. Im Viertel beschwert sich keiner, wenn in Milbergs Studio mal wieder höllisch laut gerockt wird. Heslach, der Geburtsort der Fantastischen Vier, eignet sich offenbar bestens als Brutstätte für innovativen Pop.

Ralv Milberg ist ein Soundfetischist. Vor der Arbeit klärt er stets drei Fragen. Erstens: Wie soll das Album klingen? Zweitens: Wie nimmt man es auf? Drittens: Welches ist der richtige Raum dafür?

Eine Sprecherkabine nach ARD-Norm

Für das neue Die-Nerven-Album hat Milberg die, wie er sagt, von ihm gefühlte Bewegung eingefangen: Zu diesem Zweck klemmte er dem Gitarristen Max Rieger und dem Bassisten Julian Knoth Mikrofone an die Gitarrengurte und forderte sie auf, beim Spielen im Raum herumzulaufen. Milberg sagt, dass sich dadurch „die Phasenrelation im Gitarrenmix ändert“. Anschließend bekam Rieger ein selbst gebasteltes Mikro in die Hand gedrückt, mit dem er sich beim Singen auf dem Boden wälzen sollte – in einer bis zur Decke gefliesten Küche der Ebersberger Sägemühle in Oberrot, weil nur so und nur dort Riegers Stimme perfekt aufgenommen werden könne.

In anderen Fällen benutzt Ralv Milberg eine selbst gebaute Sprecherkabine nach ARD-Norm von 1972. Milberg sagt, er liebe die „normierte Hörbuch-Akustik“ des nicht perfekt schallgedämmten Raums – die er mit einem seltsam geformten Kleinmembran-Mikrofon von einem Kleinsthersteller aus dem Odenwald unterstreicht. „Ich glaube sogar, dass einzelne Kabel einen speziellen Sound haben.“

Laien kommen da längst nicht mehr mit, aber klar wird: dieser Mann lebt für den perfekten Sound. Nach einem zweistündigen Vortrag über Großmembrane und Schalldämmung wundert es einen auch nicht mehr, dass Milberg Bücherregale in seinen Aufnahmeraum gestellt und die Bücher mit dem Rücken zur Wand einsortiert hat: „Das absorbiert den Schall besser“.

Im Sound baden gehen

Milberg lädt in die winzige Küche zu einem Filterkaffee ein und erläutert seine Klangphilosophie, ja seine Idee von Kunst überhaupt. „Es geht nicht darum, alles perfekt zu spielen. Es geht vor allem um Musikalität. Bevor ich eine Band aufnehme, soll sie in ihrem Sound baden gehen.“


Die Nerven waren die Ersten, die Milberg als Bademeister wollten. „Die haben ihn entdeckt“, sagt Jörg Freitag vom Esslinger Jugendhaus Komma, ein Kenner der regionalen Popmusiklandschaft. Inzwischen hat Ralv Milberg mit fast allen aktuell wichtigen Bands in der Region gearbeitet: Human Abfall, Karies, Levin goes lightly, JFR Moon, Jamhed, Kaufmann Frust. Im Radio sind diese Gruppen nicht zu hören, doch in der deutschen Independent-Szene werden sie gefeiert. Stuttgart gilt mittlerweile als Zentrum einer psychedelischen Spielart von Gitarrenrock. „Diese Musik funktioniert über einen speziellen Klang“, sagt Ralv Milberg, der Mann, der diesen Klang macht.

Das gab es schon einmal in Stuttgart

Milbergs musikalische Sozialisation begann in der Vorpubertät, Anfang der neunziger Jahre, mit Stuttgarter Bands wie Sog, Stale oder Monochrome. „Die haben Musik ganz anders gedacht“, sagt er, „die hatten keine Angst vor schiefen Tönen.“

Diese Furchtlosigkeit kennzeichnet auch die jungen Musiker, die heute in sein Studio kommen. Auf radiotaugliche Strophe-Refrain-Schemata verzichten sie bewusst. „Fast wie im Jazz“, meint Milberg. Er sieht in diesem Stil eine Fortsetzung des Krautrocks – jener deutschen Variante der Rockmusik, die in den 70er Jahren von Bands wie Can, Amon Düül oder Kraftwerk in deren Frühphase geschaffen wurde.

Der Lokalpatriot und nicht-patriotische Musiker

Zwar kommen die meisten Musiker, die Milberg betreut, aus der Region. Sie leben hier, organisieren hier Konzerte und haben auf eigene Kosten einen Sampler herausgebracht. Doch das Album trägt einen stuttgartkritischen Titel: „Von Heimat kann man hier nicht sprechen.“ Der Lokalpatriot Milberg zählt sich selbst nicht zu dieser Szene, deren Protagonisten in der Regel mehr als zehn Jahre jünger sind als er. Aber er ist der kongeniale Partner dieser Szene.

Die Nerven haben Milberg mittlerweile auch als Live-Mischer engagiert. Im vergangenen Jahr war er beispielsweise beim Roskilde-Festival in Dänemark mit dessen mehr als 130 000 Besuchern im Einsatz. Und er erlebte hautnah mit, wie die Band beim europäischen Nachwuchsfestival Eurosonic Noorderslag gefeiert wurde.

Es könnte noch mehr kommen für die jungen Stuttgarter Bands und für ihren Soundtüftler Ralv Milberg. Früher hielt er sich mit Jobs auf dem Bau über Wasser. Nun lebt er nicht nur für, sondern allein von der Musik. „In meiner Generation haben ganz viele über Stuttgart gelästert und sind nach Berlin gegangen“, sagt er. „Jetzt haben hier ein paar Leute den Hintern hochgekriegt. Die stehen jetzt für Stuttgart.“ Ob sie wollen oder nicht.

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