Nostalgiker und Retro-Fans bekommen feuchte Augen und zittrige Hände, wenn sie davor stehen: Kaugummi-Automaten. Meist rostig-rote Relikte einer scheinbar besseren Vergangenheit. Doch wie sieht ihre Zukunft aus?

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - Am Haus von Frau Richardzagen, der Nachbarin gegenüber, hing seit den frühen 1960er Jahren ein schäbiger roter Kaugummi-Automat. Ein Groschen kosteten drei bunte Kugeln, kaum größer als eine Haselnuss. Frau Richardzagen, die früh Witwe geworden war, hatte im Erdgeschoss ihres Mehrfamilienhauses einen Tante-Emma-Laden mit Köstlichkeiten wie Mohrenkopf, Wassereis, Blockschokolade und Gummischlangen. Da die resolute Ladeninhaberin mit dem grauen Dutt und Kittelschurz nicht sonderlich nett zu uns Kindern war, blieb der Kaugummi-Automat meist die erste Wahl.

 

Groschen in den Metallschlitz gesteckt. 360-Grad-Drehung. Es machte plopp, plopp, plopp. Und dann schmatz, schmatz, schmatz.

Die Rückkehr der Kaugummi-Automaten

Heute gibt es sie wieder. Im Zuge der Retrowelle kehren Kaugummi-Automaten in die Anonymität postmoderner Großstädte zurück (oder sie waren nie richtig weg, sondern nur unbeachtet). Mit einem sich wohlig-warm anfühlenden Stück Kindheit im Gepäck. Das Klebezeug unter der Schuhsohle und dem Schultisch weckt Erinnerungen an längst vergangene Tage, als die Welt noch in Ordnung schien.

Inzwischen gibt es Bubblegums überall zu kaufen als Streifen, Dragées, Kugeln in allen möglichen definierbaren und undefinierbaren Geschmacksrichtungen. Nichts Besonderes. Massenware halt. Aber die knallbunten Kugeln aus dem Automaten, die schon aussehen wie Karies-Bomben, sind Retro, Kult, Infantilitäts-Legende. In Stuttgart kostet ein „Bubblegum“ heute zehn Cent am Automaten, „Spielwaren in Kapseln“ gibt’s für 20 oder 50 Cent, Krieger-Figuren sind teurer.

Der Automat in der Stuttgarter Hegelstraße

Der Kaugummi-Automat, der an einer Hauswand in der Stuttgarter Hegelstraße hängt, ist ebenfalls rot und rostig. Wie es sich für eine solches Teil gehört. Nur eines ist er nicht: ungewöhnlich. So oder so ähnlich sehen die meisten Kaugummi-Automaten in Deutschland aus. Haben sie so antiquiert und vergammelt überhaupt noch eine Überlebenschance?

Wer nach ihnen Ausschau hält, findet einige: In der Nähe von Supermärkten, in Wohnvierteln mit Kindern – und virtuell in den sozialen Netzwerken, auf Instagram, Facebook, Reddit. Im Internet sind die Retro-Kästen längst Kult- und Kunstobjekt statt Kleinkram-Spender. Vor allem in Großstädten werden die Automaten neu gestaltet und mit Kunst gefüllt.

Zurück in die Kindheit

„Es überleben die, die kreativ sind und sich wirklich Gedanken über die Kunden von morgen machen“, sagt einer, der es wissen muss. Paul Brühl ist Geschäftsführer vom Verband der Automaten-Fachaufsteller (Vafa) im rheinländischen Langenfeld. „Die Geräte ähneln sich vom Typ her – auch die Neuen“, räumt er mit Blick auf die meist recht abgegriffene Optik ein. Erste Anbieter würden sich aber Gedanken über kreativere Füllungen machen. „Manche nehmen über soziale Medien Kontakt mit den Kunden auf.“

Info: Was in Kaugummis alles drin ist

Apropos Füllung

Was ist in solchen Kaugummis eigentlich drin? Schon in der Spätsteinzeit waren Kaugummis beliebt. Damals wurden sie aus Baumharz etwa von der Birke hergestellt. Heute ist die Kaugummibasis (auch Kaumasse genannt) ein Mix aus verschiedenen petrochemischen Grundstoffen: Kunststoffe wie Polyisobutylen und Polyvinylacetat (Ausgangsstoffe für Dichtungsmasse, Pflasterkleber und Sprengstoff), 50 bis 70 Prozent Zucker, Füllstoffe wie Aluminiumoxid sowie Kieselsäure und Zellulose. Nicht zu vergessen Weichmacher, Feuchthaltemittel, Antioxidantien, Aromen, Säuren, Farbstoffe und Emulgatoren.

Weder gesund noch natürlich

Die Inhaltsstoffe sind weder gesundheitsförderlich noch natürlich. Sei’s drum. Kaugummis haben eine äußerst anregende Wirkung, was aber nicht mit den Ingredienzien zu tun hat, sondern mit der durch das Dauerkauen ausgelösten mechanischen Bewegung der Kaumuskulatur. Dies verbessert nämlich die Blutversorgung des Kopfes und damit die Blut- und Sauerstoffversorgung des Gehirns. Zudem wird die dicht mit Nerven durchzogene Mundhöhle durch die Reizung angeregt und zugleich entspannt.

Kult und Kunst rund ums Bubblegum

Im Supermarkt gibt’s mehr fürs Geld

Bisher dominiert in den Kaugummi-Automaten Altbekanntes: Kaugummi, Spielsachen, Nippes. „Es sind im Prinzip schon die Klassiker. Das wundert mich auch“, sagt Brühl. „Bei dem Kaugummi, den ich im Supermarkt kaufe, bekomme ich für mein Geld oft mehr. Wer als Aufsteller clever ist, setzt auf ein vernünftiges Produkt.“ Immerhin: Die knallbunten Kugeln aus dem Kasten gebe es im Supermarkt so nicht zu kaufen, nur beim Großhandel.

Die Kaugummi-Automaten-Guerilla

Inzwischen gibt es aber eine Gegenbewegung der Kaugummi-Automaten-Guerilla. Im Stuttgarter Westen, gar nicht weit entfernt von dem rostig-roten Klassiker, haben kreative Kau-Fans zwei Automaten an eine Hauswand geschraubt, die frischen Wind in dem jahrtausendealten Kaugummi-Metier verheißen. Kunst statt Kaugummi. Ab einem Euro können Passanten aus den goldfarbenen und kunterbunt bemalten Kästen skurrile Dinge ziehen – von Basteleien über Gedichte bis hin zu Anhängern in Zahn-Form. Auch in anderen Städten wie Potsdam, Essen und Berlin gibt es Kunstautomaten.

Dahinter stehen freilich nicht professionelle Automatenbetreiber. Das Geschäft lohnt sich nur in der Masse. „Sie machen da keine Reichtümer“, sagt Brühl. Kaugummiautomaten als (Mini-) Goldgrube? Das ist schon ein paar Jahrzehnte her. Ein durchschnittlicher Kaugummi-Automat wirft Brühl zufolge im Jahr bis zu 100 Euro Umsatz ab. Für Betreiber mit weniger als 100 Automaten lohne das Geschäft nicht.

Der Bundesverband der Automatenunternehmer schätzt, dass es bundesweit zwischen 500 000 und 800 000 Kaugummi-Automaten gibt und rund 250 Aufsteller den Löwenanteil daran haben.

Virtueller Kult ums Kaugummi-Automaten-Universum

Einige dieser Automaten haben es schon zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, wenn auch nur im Internet. Sie dienen Fotografen als retrograde Kunstobjekt. Auf Instagram laden Nutzer zahlreiche Fotos der bunten Maschinen hoch, versehen mit Hashtags wie #Kindheitserinnerung, #Gutealtezeit, #Vintage oder #90er. Fast 6400 Beiträge sind gepostet.

Kommerz und Kunst

Internet als Kunden-Köder

Katrin Sommer aus Burscheid betreibt einen Kaugummi-Automaten an der eigenen Hauswand. „Die Leute machen unglaublich viele Selfies damit.“ Sommer, die neben dem Kaugummi auch mehrere Snackautomaten betreibt, nutzt das Internet für die Gewinnmaximierung. „Meine Arbeit ist 90 Prozent bei Social Media“, sagt sie. „Das ist ein riesen Vertriebskanal.“ Durch das Bekanntmachen im Netz würden die Automaten viel präsenter und dadurch öfter angesteuert.

Der Kaugummi-Automaten-Fotograf

Einer, der Automaten-Fotos bei Instagram hochlädt, ist der Künstler Max Schwarck, der in den beiden vergangenen Jahren in Berlin loszog und „die vermutlich süßeste Maschine der Kindheit“ porträtierte, wie er es nennt. Ein Ergebnis der Bildreihe: Kaugummi-Automaten sind „vom bloßen Verkaufsautomaten zu einem Zeichenspeicher von Stadtkultur umfunktioniert“ worden, schreibt Schwarck auf seiner Internetseite.

Damit meint er die zahlreichen Sprüche, die Passanten an die Kästen geklebt oder gekritzelt haben – von „Kein Tier ist egal“ bis „Ich liebe mein Leben“. Schwarck: „Jeder Automat erzählt seine individuellen und einzigartigen Geschichten.“

Klebrige Erinnerungen an früher

Eine Retrospektive dürfte aber immer darunter sein: die der klebrigen Kindheitserinnerung. „Diese Automaten haben eine Bedeutung. Daran probieren die Kinder ihre ersten Kauferlebnisse aus. Begleitet vom Prozess: Hoffentlich kommt da was raus – und kommt da auch das raus, was ich hoffe?“, sagt Vafa-Geschäftsführer Brühl. „Sie sind die Wundertüte der Automatenbranche.“