Er steht auf dem Leonberger Engelberg im Schatten seines großen Bruders, hat aber eine bedeutende Geschichte. Unsere Serie über geheimnisvolle Orte in der Region.

Ihn kennt man, er ist das Wahrzeichen der Stadt Leonberg, von weither sichtbar und vor allem im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel: der Turm auf dem Engelberg, der 34,70 Meter hoch über die Baumwipfel in den Himmel ragt. Er ziert nicht nur das Logo der Stadt, sondern auch eine Pralinen-Edition.

 

Der Engelberg selbst liegt auf einer Höhe von 480 Metern über dem Meeresspiegel. Hier wurde 1928 der Wasserturm für die Anlage eines Golfplatzes in unmittelbarer Nähe auf der Leonberger Heide errichtet. 1982 verlor er seine Funktion als Wasserturm. Seither ist er ein Aussichtsturm. Wer von dort den weiten Ausblick genießen will, muss 123 Stufen hinaufsteigen. Doch um ihn soll es hier gar nicht gehen.

Etwa 60 Schritte dahinter steht fast unscheinbar im Schatten des prominenten Bauwerks der kleine Bruder, der vielen Besuchern zunächst gar nicht ins Auge sticht. Vor allem nicht im Sommer, wenn sich die Bäume in ihren grünen Blättermantel hüllen und auch den etwa 13 Meter hohen steinernen Gesellen verstecken.

Rainer Selig vom Nabu hofft, dass sich Fledermäuse im Turm ansiedeln. Foto: Jürgen Bach

„Auf dem Engelberg gibt es einen weiteren Turm?“ Diese überraschende Frage fiel tatsächlich auch in unserer Redaktionsrunde beim sogenannten Brainstorming für diese Serie mit dem Titel „Lost Places“, als ein Kollege diese Örtlichkeit ins Rennen brachte. „Gibt es über ihn überhaupt etwas zu erzählen?“ Und ob.

Schlüssel zum Lost Place

Eine erste spontane Besichtigung bringt noch nicht allzu viele Erkenntnisse. Acht Fenster in unterschiedlicher Größe hat der Turm – das größte zum Tal hin ist vergittert. Einmal herumgehen, fertig. Für die Öffentlichkeit ist der Turm nicht zugänglich, das Schloss einer hölzernen Tür ist verriegelt. Wer besitzt wohl einen Schlüssel? Ein Anruf bei der Stadt – und diese Frage ist geklärt. Die stellvertretende Pressesprecherin Leila Fendrich bringt beim vereinbarten Termin nicht nur den Schlüssel mit – sondern auch Rainer Selig, einen Sprecher des Leonberger Naturschutzbundes Deutschland (Nabu).

Die stützenden Dachbalken im Turm. Foto: Jürgen Bach

Welch ein Zufall. Erst vor wenigen Wochen hatte er mit seinen Nabu-Kollegen im Innern der Turmspitze in einem waghalsigen Einsatz eine hölzerne Behausung für Zwergfledermäuse montiert. Es ist ein Versuch, sie hier oben in luftiger Höhe anzusiedeln. Ob tatsächlich Fledermäuse im Sommer zu Hause sind, weiß Rainer Selig nicht. Vor einigen Jahren hatte er bei einem Abendspaziergang mit seiner Frau welche gesehen, wie sie um den kleinen Turm herumgeflogen waren. „Es wäre schön, wenn unser Einsatz zum Erfolg führen würde.“ Rainer Selig schließt die Tür des Turmes auf und bittet ins Innere. Auf dem Boden liegt jede Menge Schutt. Die Steine der dicken Wand bröckeln ab. „Wir machen hier regelmäßig einmal im Jahr sauber.“ Gesprühte Schriftzüge in der Farbe Pink zeugen von Besuchern, die sich vermutlich vor noch nicht so langer Zeit hier aufgehalten haben müssen. 22 Treppen führen im Kreis nach oben. Über eine Zwischendecke geht es noch ein weiteres Stockwerk hinauf. Auf einem Vorsprung hat ein Vogel sein Nest gebaut. „Das sieht nach einer Amsel aus“, sagt der Naturschützer. Der hölzerne Boden unterm Dach ist mit Linoleum ausgelegt. Er kann noch nicht allzu alt sein. Die Fenster haben die Nabu-Vertreter mit Holz verriegelt, um mögliche tierische Bewohner vor zugiger Luft zu schützen. Für ausreichend Schlupflöcher, damit sie ins Innere gelangen können, ist natürlich gesorgt. Dunkel ist es hier oben. Rainer Selig hat wohlwissend eine Taschenlampe mitgebracht. In ihrem Lichtstrahl sucht er die Wand ab. Schriftzüge einiger Zeitzeugen sind im Mauerwerk verewigt. Mal in Farbe geschrieben, mal eingeritzt. „Pit + Meuse 1934“, „Eugen Röckle Renningen“, „Kurt Werner 1946“.

Der große Bruder im Hintergrund. Foto: Jürgen Bach

Im Volksmund wird der alte Turm in der Nachbarschaft des Leonberger Wahrzeichens oft als Römerturm bezeichnet. Doch das sei falsch, sagt die frühere Leonberger Stadtarchivarin Bernadette Gramm. „Seine Bauzeit ist vermutlich das Jahr 1674.“ In diesen unruhigen Zeiten sei der Dreißigjährige Krieg noch immer gegenwärtig gewesen, und man wollte nicht ungeschützt sein.


Auf dem Engelberg wurde ein Rundturm über drei Stockwerke hoch gemauert. Ein Außenposten der Stadtwächter. In diesen gelangte man mit einer Leiter, die bei Gefahr eingezogen wurde. Bis vor 200 Jahren stand auf dem Engelberg kein Wald. Jede Fläche wurde, insofern es möglich war, landwirtschaftlich für die Versorgung der Bürgerschaft genutzt. Die Wächter, die in Krisenzeiten dort oben stationiert waren, hatten freie Sicht weit ins Land hinein. „Der Warthturm gewährt die schönste Aussicht über die gesegneten Fluren Altwürttembergs, den Schwarzwald und einige Bergkuppen der Alb“, heißt es in einem Heimatbuch von Eugen Wendel. Da hatte das Bauwerk schon seine Würde als Aussichtsturm bekommen, die er später an den großen Bruder abtrat.

Der Leonberger „Verschönerungs-Verein“ hatte im Jahr 1895 am ehemaligen Wartturm zwei Gedenksteine für Schiller und Schelling aufstellen lassen. Sie ergänzten die beiden Linden, die 1888 zu Ehren der beiden mit Leonberg verbundenen Geistesgrößen gepflanzt worden waren. Diese beiden Gedenksteine sind zwei von insgesamt acht auf dem Engelberg. Die Steinmetz-Werkstatt Ludmann fertigte die Findlinge im Jahr 1895 an. Sie kamen aus den Steinbrüchen im Glemstal. Der Leonberger Alfred Zepf hat die beiden Gedenksteine am kleinen Turm im Sommer 2022 mit Gleichaltrigen der Geburtsjahrgänge 1934/1935 restaurieren lassen. Denn mit den Steinen verband er eine schöne Erinnerung an seine Kindheit.

Lost Places in der Region Stuttgart

Lost Places
Der Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen jedoch ihre geheimnisvolle Aura. Die Bezeichnung Lost Place ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.

Serie
In loser Folge stellen wir Lost Places in der Region Stuttgart vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Geheimnisvolles Stuttgart
Auch direkt in der Landeshauptstadt finden sich Überraschungen. Von Tipps und Ausflugszielen bis hin zum Lost Place für Verliebte sammeln wir sie online unter dem Titel „Geheimnisvolles Stuttgart“.