Die Pleite von Lehman Brothers ist jetzt drei Jahre her. Haben Politik und Wirtschaft aus den Fehlern gelernt? Die ersten Schritte sind gemacht.  

Brüssel - Die Überschrift dieses Artikels ist geklaut. Schon 1997, in der Asienkrise, beschrieb die französische Zeitung "Le Monde Diplomatique" das Unheil, das die unregulierte Finanzbranche anrichtet, und forderte Taten: "Entwaffnet die Märkte!" Aber Asien war weit weg - es entstand zwar eine globalisierungskritische Bewegung, aber in den Regierungszentralen dieser Welt passierte nichts. Im Gegenteil: die letzten Fesseln fielen.

 

Die Finanzkrise, die im Bankrott der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers heute vor drei Jahren nicht ihre Ursache, so aber doch ihr Symbol hatte, änderte das. Kurz darauf versprach die Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer: "Kein Markt, kein Marktteilnehmer, kein Produkt ohne angemessene Aufsicht und Regulierung."

Größter Erfolg der EU ist die EU-Finanzaufsicht

Auch die Europäische Union machte sich an die Umsetzung des Leitsatzes - bemüht, im Ergebnis aber halbherzig. Von einem Dutzend Gesetzespaketen sind gerade einmal drei in Kraft getreten. Als größten Erfolg hält sich die europäische Politik den Aufbau dreier Behörden zugute, die zusammen die neue EU-Finanzaufsicht bilden.

In Paris wird seit Jahresanfang das Treiben an den Börsen überwacht, von London aus die Lage der Banken und in Frankfurt die Versicherungsbranche. Die Zuständigkeiten erschöpfen sich bis jetzt weitgehend in einer Koordinationsfunktion.

Direkt eingreifen und etwa den Handel mit bestimmten Finanzpapieren untersagen dürfen die neuen Aufpasser erst, wenn die EU-Finanzminister den Finanzmarktnotstand ausrufen - das aber ist auch in den vergangenen Wochen des flächendeckenden Absturzes nicht passiert.

Streit über Kompetenzen

Über viele Kompetenzen in bestimmten Bereichen des Marktes, die die Aufsicht noch erhalten soll und die Teil anderer Gesetzespakete sind, wird zwischen den Mitgliedstaaten sowie dem Europaparlament erbittert gestritten. Viele Vorschläge der EU-Kommission stehen auch noch aus.

Die im Raum stehende Staatspleite Griechenlands ist für Europa und die Welt nicht deshalb so gefährlich, weil es nicht verkraftbar wäre, wenn ein Land ausfiele, das mit nur zwei Prozent zur EU-Wirtschaftsleistung beiträgt. Es sind die Unwägbarkeiten der Finanzbranche.

Welche in Athen engagierten Banken mit in den Abgrund gerissen würden, ist nach dem ersten echten Bankenstresstest im Juli zwar etwas klarer geworden. Ein Bankenrestrukturierungsgesetz, das dafür sorgen würde, dass nicht wieder der Steuerzahler für gescheiterte Institute einspringen müsste, ist zwar vom Bundestag beschlossen, auf der wichtigeren europäischen Ebene aber erst für den Herbst als Vorschlag der EU-Kommission angekündigt.

Wer in großen Banken ein großes Rad dreht, kann sich weiter darauf verlassen, dass sein Geldhaus als "systemrelevant" gilt und herausgehauen wird. Die neue gesetzliche Anforderung, dass mehr Eigenkapital bereitgehalten werden muss, hat diese Attitüde kaum verändert.

Kanzlerin Angela Merkel bleibt nur, darauf zu verweisen, dass der für 2013 vorgesehene Eurorettungsschirm ESM zumindest Ansätze für eine geordnete Insolvenz und damit eine Beteiligung privater Gläubiger mit sich brächte. Ob das entsprechende Gesetz alle Parlamente der 17 Eurostaaten passiert, steht jedoch in den Sternen.

Dasselbe gilt für die Finanztransaktionssteuer, mit der die Branche direkt an den Kosten der Krise beteiligt werden soll. Nach langem Zögern hat die EU-Kommission nun einen Gesetzesvorschlag für den Herbst angekündigt, der 50 Milliarden Euro im Jahr einbringen könnte. Aber der Widerstand ist bereits jetzt groß.

Gefährliche Wetten auf Pleite Griechenlands

Das Gefährlichste am Ist-Zustand dürfte die Tatsache sein, dass die Öffentlichkeit weiter nichts darüber weiß, wie viel Geld weltweit etwa auf den Untergang Griechenlands und anderer Eurostaaten gewettet wird. Eine EU-Richtlinie zu Kreditausfallversicherungen, mit der die Aufseher wenigsten darüber informiert wären, wer welche Papiere hält und wem im Pleitefall welche Summen zustehen, ist zwar auf den Weg gebracht.

Umstritten ist sie zwischen Europas Hauptstädten und dem EU-Parlament, da Leerverkäufe der Kreditausfallpapiere ausgenommen bleiben sollen - offensichtlich auf Druck der Finanzlobby. Bei ungedeckten Leerverkäufen werden Papiere auf Termin verkauft, die man selbst nicht besitzt. Im Klartext: Investoren könnten sich weiter gegen ein Risiko absichern, das sie nicht betrifft, aber sehr wohl reich werden, wenn der Schaden eintritt.

Eine große Rolle dabei spielen weiterhin die Hedgefonds, die mit wenig Eigenkapital große Summen bewegen. Die entsprechende Regulierung, die sie zur Offenlegung ihrer Hintermänner und Methoden zwingt, wenn sie nicht ihre Zulassung verlieren wollen, ist verabschiedet. Der Haken: das Gesetz gilt erst von 2013 an - für Fonds außerhalb der EU gar erst von 2015 an.

Viele Experten beharren auf der Meinung, "die Märkte" seien, was die Eurokrise betreffe, nur der Überbringer der schlechten Nachricht. In der Tat sind die Schulden der EU-Staaten zu hoch - sie waren mancherorts aber auch schon höher, ohne dass die Börsen Alarm geschlagen hätten.


Die Brüsseler EU-Kommission ist dagegen der Ansicht, dass auf dem Parkett und bei den Ratingagenturen viel Irrationalität und Eigeninteresse im Spiel ist. "Ich kann nicht nachvollziehen, wie eine Agentur ein Land brutal herabstufen kann - in dem Moment, wo das Land unter Kontrolle der EU ist", sagte der für die Finanzmarktregulierung zuständige Kommissar Michel Barnier im Juli, als die Agentur Moody's Portugals Staatsanleihen auf Ramschniveau herabsetzte.

Barnier hat ein Gesetz für mehr Transparenz bei den Bewertungsmethoden durch den EU-Ministerrat und das Europaparlament durchgesetzt. Ein weiteres, das Wettbewerb schaffen sowie die Abhängigkeit von den drei großen US-Akteuren auf diesem Gebiet verringern und Spekulationen mit Staatsanleihen erschweren soll, hat Brüssel aber noch nicht offiziell präsentiert.

Nicht nachvollziehbare Ausschläge nach unten oder oben, die den Rest des Marktes mit sich ziehen, produziert nach Einschätzung der EU-Behörde auch der sogenannte Hochfrequenzhandel. Ohne menschliches Zutun führen Computer in Sekundenschnelle Hunderte von Kauf- oder Verkaufanweisungen aus und lösen dabei oft unerklärliche Kursschwankungen aus - so im Mai 2010, als der Dow Jones in New York binnen Minuten um knapp 1000 Punkte einbrach.

Barniers noch nicht der Öffentlichkeit vorgestellter Gesetzentwurf sieht vor, dass der Handel bei extremen Ausschlägen unterbrochen wird, bis die Ursache geklärt ist. Bis dies aber umgesetzt wird, vergehen sicherlich noch Jahre.

Erstmals mischt US-Minister bei Treffen der EU-Finanzminister mit

Am Freitag gibt es eine Premiere. Erstmals wird in Gestalt von Timothy Geithner ein US-Finanzminister am Treffen der EU-Finanzminister teilnehmen. Und dass China über den Wunsch Italiens nachdenkt, dessen Staatsanleihen zu erwerben, wäre vor Kurzem ebenfalls noch undenkbar gewesen.

Dass aber alle an einem Strang ziehen würden, lässt sich nicht behaupten: Die britische Regierung schützt den Finanzplatz London, die US-Administration die Wall Street, die Bundesregierung will oft genug Kompetenzen an eine übergeordnete Kontrollstelle abgeben.

Vor dem nächsten G-20-Gipfel im November in Cannes ist von der feierlichen Entschlossenheit nicht mehr viel übrig. Ohne sie werden sich die Märkte allerdings nicht entwaffnen lassen.