Ferdinand Lassalle begründete vor 150 Jahren die organisierte Sozialdemokratie. Die Partei, wie sie heute dasteht, hat wenig mit dem Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gemein. Der StZ-Politikchef Rainer Pörtner glaubt, dass es trotzdem lohnt, an Lassalle und seine Ideen zu erinnern.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Am 4. September 1864 schrieb Friedrich Engels aus Manchester an seinen Freund Karl Marx: „Welcher Jubel wird unter den Fabrikanten und unter den Fortschrittsschweinhunden herrschen, Lassalle war doch der einzige Kerl in Deutschland, vor dem sie Angst hatten.“ Die beiden Vordenker des Kommunismus trauerten in ihrem englischen Exil um den Mann, der sich anderthalb Jahre zuvor zum Wortführer der deutschen Arbeiterbewegung aufgeschwungen hatte und nun, erst 39 Jahre alt, gestorben war.

 

Ganz geheuer war ihnen dieser Ferdinand Lassalle zwar nicht gewesen – zu reformerisch, zu undurchsichtig, zu überheblich erschien er den beiden Revolutionspropagandisten. „Er war für uns gegenwärtig ein sehr unsicherer Freund, zukünftig ein ziemlich sicherer Feind“, schrieb Engels. Aber

politisch, das erkannte er an, „war er sicher einer der bedeutendsten Kerle in Deutschland“.

Einen kleinen, spöttischen Seitenhieb wollte sich Engels allerdings selbst im Moment des trauernden Gedenkens nicht verkneifen. Was sei das doch „für eine sonderbare Art, ums Leben zu kommen“: sich in eine bayerische Gesandtentochter zu verlieben und dann von einem Nebenbuhler erschießen zu lassen. „Das konnte nur dem Lassalle passieren bei dem sonderbaren Gemisch aus Frivolität und Sentimentalität, Judentum und Chevaleresktuerei, das ihm ganz allein eigen war.“

Bourgeois, Spekulant und Schürzenjäger

Er war schon ein ganz ungewöhnlicher Charakter, dieser als Ferdinand Johann Gottlieb Lassal geborene Spross einer großbürgerlichen Breslauer Familie, der seinen Namen in Verneigung vor der französischen Revolution in „Lassalle“ änderte und sich am 23. Mai 1863, also vor 150 Jahren, zum ersten Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) wählen ließ. Die SPD hat ihn zum Stammvater der sozialdemokratischen Bewegung erkoren. Sie wird den Jubiläumstag mit einer großen Feier in Leipzig begehen – der Stadt, in der Lassalle in einem schäbigen Wirtshaus mit einem Dutzend gleichgesinnter Männer den ADAV gründete.

Betrachtet man die SPD in ihrer heutigen Erscheinungsform, so macht es staunen, auf wen sich die älteste demokratische Partei Deutschlands da in vielen Reden berufen wird: einen Bourgeois und Schürzenjäger, einen grandiosen Charmeur und arroganten Ehrgeizling, einen Salonlöwen und Spekulanten.

Lassalle hatte über seinen Vater, einen Tuchhändler, einiges Geld mitbekommen. Zu einem finanziell zumeist sorgenfreien Leben brachte ihn allerdings erst seine Beziehung zu Sophie Gräfin von Hatzfeldt. Als 21-jähriger Student lernte er die zwanzig Jahre ältere Gräfin kennen, die sich – für diese Zeit ein geradezu skandalöses Begehren – scheiden lassen und ein großes Stück vom großen Vermögen ihres Mannes abhaben wollte. Der begnadete Denker und Redner Lassalle half ihr vor vielen Gerichten, manchmal auch mit nicht ganz sauberen Mitteln, und wurde mit einer jährlichen Rente von 7000 Talern belohnt, die ihn von der Sorge um den Broterwerb befreite.

Ein Mann in seinem Widerspruch

Dieser feurige, unstete Mann, der viele Jahre seines kurzen Lebens einem Rechtsstreit des Hochadels und der (wohl auch intimen) Beziehung zu einer Gräfin widmete, war gleichzeitig sozialistischen Ideen und den Idealen der Französischen Revolution („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) verfallen. Mit 23 Jahren führte Lassalle während der Revolution von 1848 Gruppen der extremen Linken im Rheinland an und wanderte dafür auch ins Gefängnis. Er schuf aus diversen Strömungen der Arbeiterbewegung eine Partei, aber er liebte die Arbeiter nicht. Im Gegenteil: die modrigen, dreckigen Quartiere, in denen sie hausten, waren Lassalle zuwider, er ekelte sich vor jedem Händedruck mit einem Arbeiter. Er wollte sie politisch stark machen, aber nur mit ihm selbst, ganz allein, an der Spitze. Ein Demokrat war er, wenn es um die Forderung nach einem allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlrecht ging. In seinem ADAV trat er dagegen auf wie ein moderner Cäsar. Alle hatten sich seinem Willen zu fügen – wie jenseits der Politik auch die vielen Frauen, mit denen er sich in amouröse Abenteuer stürzte. Insofern war es durchaus folgerichtig, dass er in einem Duell den Tod fand, in dem es um eine schöne Frau ging, Helen von Dönniges.

Er war ein Mensch mit überbordendem Selbstbewusstsein, wie sich auch zeigte, als er 1863 – im sogenannten „Offenen Antwortschreiben“ – dem in Gründung befindlichen Arbeiterverein die Kernpunkte seines politischen Programms darlegte. „Ist der deutsche Arbeiterstand nicht bis zum Entsetzen träge und schläfrig“, schrieb er kurz darauf an Gräfin Hatzfeldt, „so muss dieses Manifest . . . ungefähr eine Wirkung hervorrufen wie die Thesen an der Wittenberger Schlosskirche.“

Reformen im Interesse der Arbeiterklasse, nicht Revolution

Einer neuen Kirche, wie Martin Luther, hat Lassalle nicht den Weg geebnet. Sein historischer Erfolg liegt darin, der Arbeiterklasse – verstanden in einem weiten Sinne – zu einer schlagkräftigen, dauerhaft lebensfähigen Partei verholfen zu haben. Dieses in Deutschland gesetzte Beispiel strahlte in viele Länder aus. Lassalle sah in einem demokratischen Wahlrecht die Grundbedingung für politischen und sozialen Wandel; er führte seine Partei damit auf den Weg der Reformen und nicht auf den Weg der Revolution. Sein Insistieren auf eine straffe, zentralistische Führung hat die SPD stark geprägt, die sich aus sehr kleinen Anfängen über Fusionen und Spaltungen, in inneren und äußeren Kämpfen, über Zeiten der Verfolgung und Zeiten des Regierens hinweg zu der heute sichtbaren Parteiformation entwickelte.

Es führt kein geradliniger Weg von Lassalle über die großen SPD-Vorsitzenden – August Bebel (1840–1913), der mehr als zwanzig Jahre an der Spitze stand und den sie „Arbeiterkaiser“ nannten, und Willy Brandt (1913–1992), in dessen Amtszeit die Zahl der Wahlprozente auf Rekordhöhe stieg – zu Sigmar Gabriel oder Peer Steinbrück. Der Kanzlerkandidat Steinbrück wurde zwar kürzlich in durchaus zweischneidiger Weise in Bezug zum Parteigründer gesetzt, als es um seine Millionenverdienste als Vortragsreisender ging: Gabriel verteidigte ihn unter ausdrücklichem Verweis auf Lassalle mit dem Argument, dieser habe doch gezeigt, dass man sehr wohl reich sein und sich dennoch für die Armen und Beladenen einsetzen könne. Aber ansonsten sind die aktuellen SPD-Anführer biografisch, charakterlich und politisch von ganz anderem Schlag als ihr Parteigründer.

Überraschende Traditionslinien in die Gegenwart

Ein Blick in die Reden und Schriften Lassalles lässt allerdings – darauf hat der große sozialdemokratische Nachdenker Erhard Eppler hingewiesen – einige überraschende Traditionslinien erkennen. Es gibt gedankliche Fäden, die abgerissen schienen und nun wieder aufgenommen werden. Sie drehen sich um das Verständnis von Markt und Staat, um Demokratie und Freiheit, um das Verhältnis von Liberalismus und Sozialdemokratie.

Lassalle war ein geradezu fanatischer Gegner der stärksten parlamentarischen Oppositionskraft im Deutschland jener Zeit, der liberalen Fortschrittspartei. Diese war bürgerlich geprägt, gehörte aber zum demokratischen Lager und war die bestimmende Kraft auch in vielen der „Arbeiterbildungsvereine“, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die Arbeiter durch Bildung zu fördern. Lassalles Aversion hatte zwei Ursachen: Zum einen wollte er eine eigene Arbeiterbewegung organisieren, unabhängig von den bürgerlichen Kräften. Zum anderen erschien ihm der Liberalismus als mindestens so große Gefahr wie Adels- oder Junkerherrschaft.

Als wär’s ein Stück von heute

Diesem Liberalismus – jedenfalls in seiner Theorie – hielt er vor, einen Nachtwächterstaat zu wollen, der lediglich das Eigentum und die Geschäfte des Bourgeois schützen, ansonsten aber saft- und kraftlos sein sollte. Als „Manchester-Männer“ geißelte Lassalle in Anspielung auf den völlig verrohten Kapitalismus in England jene, die nur an ihre eigenen Gewinne ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verluste dachten. Sie seien „Barbaren, welche den Staat hassen“. Sie würden mit ihrer „kapitalbewaffneten Ausbeutungssucht“ den Staat am liebsten abschaffen, selbst Justiz und Polizei an den Meistbietenden verschachern und sogar ihre Kriege gerne durch Unternehmen führen lassen.

Tatsächlich paarte sich im Deutschland jener Zeit ein monarchischer, undemokratischer Staat mit einer Wirtschaft, der dieser Staat nahezu grenzenlose Freiheiten ließ. Über die folgenden Jahrzehnte verlor dieser Dualismus und damit Lassalles Furor an Bedeutung, weil sich der Staat – endend in der Bundesrepublik – über einige Umwege zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat wandelte.

Aber Lassalles Warnungen klingen plötzlich wieder laut und klar, seit in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine „marktradikale Welle“ (Eppler) über die Welt schwappte und Politiker wie der US-Präsident Ronald Reagan die Parole ausgaben: „Der Staat ist nicht die Lösung, der Staat ist das Problem.“ Plötzlich sind die Prophezeiungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gar nicht mehr so weltfremd, wie sie zunächst anmuten. Die Staaten entfesseln die Finanzwirtschaft, die gesellschaftliche Kontrolle von ökonomischem Tun wird verächtlich gemacht, die Schere zwischen Reich und Arm öffnet sich wieder in lange ungekannter Weise. Selbst Lassalles Szenario einer Privatisierung des staatlichen Gewaltmonopols findet vielfache Entsprechung in der Wirklichkeit: in „gated communities“, jenen von Wachmännern gesicherten Wohngebieten der Reichen; in der Privatisierung von Gefängnissen; in „Sicherheitsfirmen“ wie Blackwater, die etwa im Irak für die US-Armee Krieg führen.

Warum der Marktradikalismus sich durchsetzen konnte

„Wie ist es möglich, dass das, was der Theoretiker Lassalle dem Marktradikalismus zugetraut hat, erst ungefähr 130 Jahre danach Wirklichkeit wurde?“, fragt Erhard Eppler und antwortet selbst mit der These, „dass das, was Lassalle kurz vor seinem Tod angestoßen hat, die politische Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie und ihre Ableger dies bis dahin verhindern konnten. Und dann nicht mehr.“ Eppler schließt daraus, dass alles Gerede, die Sozialdemokratie habe sich nach 150 Jahren überlebt, eine geschichtsblinde Narretei sei. Vieles spreche im Gegenteil dafür, dass „in einem Jahrzehnt, in dem Lassalles schlimmste Träume wahr werden, diese älteste Partei Deutschlands noch nie nötiger war“.Diese Betrachtung ist in ihrem ersten Teil bitter für die Genossen – und in ihrem zweiten Teil getragen von viel Wunschdenken. Tatsächlich gehört es heute in der SPD zum Common Sense, dass auch sie rund um die Jahrtausendwende den Einflüsterungen der Marktradikalen allzu sehr Gehör schenkte und insbesondere in ihrer Regierungszeit mit Gerhard Schröder eine Entstaatlichung kräftig beförderte. „Auch wir Sozialdemokraten haben uns diesem Denken vielleicht nicht genügend entgegengestemmt“, erklärte Steinbrück im April auf dem Parteitag in Augsburg.

Idealisierung staatlicher Regelung des Fortschritts

Lassalle hatte eine radikal optimistische Vorstellung vom Staat. Zweck des Staates sei, formulierte er 1862 im „Arbeiter-Programm“, „das menschliche Wesen zur positiven Entfaltung und fortschreitenden Entwicklung zu bringen“. Wenn erst mal die Arbeiter die Stimmenmehrheit hätten, dann werde er seine Bürger zu Freiheit und Selbstbestimmung geleiten. Diese Idealisierung ist ein starker Traditionsstrang in der Sozialdemokratie, und die SPD ist gerade dabei, zwischenzeitliche staatsskeptische Anwandlungen wieder abzulegen. Nun will sie den Banken und großen Finanzjongleuren enge Fesseln anlegen, einer pur marktwirtschaftlichen Preisfindung auf dem Arbeitsmarkt setzt sie einen gesetzlichen Mindestlohn entgegen, gegen das wachsende Gefälle zwischen Reich und Arm bietet sie höhere Steuern für Spitzenverdiener und Vermögende auf.

Die gesellschaftliche Grundströmung fließt in genau diese Richtung, diese Positionen finden eine sehr breite Zustimmung. Aber warum profitiert die SPD dann so wenig davon? Warum dümpelt sie in ihrem Jubiläumsjahr bundesweit unterhalb der 30-Prozent-Marke? Die Antwort hat viele Facetten.

Der Bedeutungsverlust hat viele Gründe

Die SPD hat ihre traditionelle Menschenbasis schon lange verloren. In Wahrheit ist sie heute keine Arbeiterpartei mehr, sondern eine Partei des öffentlichen Dienstes und der Rentner. Abgespaltene oder neu begründete Parteien, von den Grünen über die Linkspartei bis hin zu den Piraten, mindern ihr Anhängerreservoir. Zudem ist sie Opfer ihres Erfolgs, wurden ihre politischen Konzepte doch von der Konkurrenz kopiert. Die „Sozialdemokratisierung“ der CDU ist dafür nur ein Beispiel aus jüngerer Zeit. Ihr wichtigstes politisches Versprechen, das Versprechen auf sozialen Aufstieg, ist durch die sozioökonomische Entwicklung wie durch ihr eigenes Handeln als Regierungspartei widerlegt worden. „Wir haben nicht Aufstiegsfreude, sondern Abstiegsängste geweckt“, so urteilt der Parteichef Gabriel über die Agenda-Zeit. Sie war ein Traditionsbruch, der die Glaubwürdigkeit anhaltend beschädigt hat.

Das Sendungsbewusstsein fehlt

Eigentlich müsste die SPD in ihrem 150. Jahr in Hochstimmung sein. Es sind ihre ureigenen Themen, die Konjunktur haben: die Zähmung des Kapitals, die Sehnsucht nach sozialer Sicherheit, eine faire Gesellschaft. Aber die Partei wirkt ermattet, ihrer selbst unsicher. Es fehlt das Sendungs- und Selbstbewusstsein, das ihr früher selbst über schwierigste Phasen hinweghalf. Und ihr fehlen die mitreißenden Anführer: Menschen, die über politische Visionen verfügen, diese sprachgewaltig ausmalen können. Es fehlen ihr Politiker vom Schlage Bebel, Brandt – und Lassalle.

Wie die SPD ihr Jubiläum feiert

Die SPD wird ihren 150. Geburtstag im Zusammenhang einer ganzen Jubiläumswoche am 23. Mai 2013 im Leipziger Gewandhaus mit einer Festveranstaltung begehen, zu der auch Frankreichs Präsident François Hollande, Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartet werden. An ihre Geschichte erinnert sie auch mit Ausstellungen und Veranstaltungen in der ganzen Republik.

Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), gegründet 1863, war die erste eigenständige Arbeiterpartei. 1875 schloss sich der ADAV mit der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht geprägten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur Sozialistischen Arbeiterpartei zusammen. Dieser Fusion folgten Jahre der politischen Verfolgung aufgrund von Bismarcks Sozialistengesetz. 1890 erhielt die Partei ihren heutigen Namen: Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Nun erst entwickelte sie sich zu einer Massenpartei.

Nach dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur war die SPD die einzige Partei im Reichstag, die gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte. Wenig später wurde die Partei verboten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs konnte sich die SPD nur in der Bundesrepublik frei entfalten, in der sowjetisch besetzten Zone kam es zur Zwangsfusion von SPD und KPD zur SED. Erst mit der Wende in der DDR kam es auch hier zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei. Diese SDP vereinigte sich im Herbst 1990 mit der SPD.