Auch die letzten Filme des Festivals in Cannes bieten herausragende Kunst, zum Beispiel das neue Werk von Wim Wenders, der in „Perfect Days“ vom Alltag eines japanischen Putzmanns erzählt. Nun geht es um die Preise – und Schauspielerin Sandra Hüller wird weiter hoch gehandelt.
Alte Bekannte gaben sich im diesjährigen Cannes-Wettbewerb in einer Tour die Klinke in die Hand, und die letzten Tage des Festivals stellten dabei keine Ausnahme dar. Am späten Donnerstagnachmittag etwa schickte Wim Wenders mit „Perfect Days“ zum zehnten Mal einen Film ins Rennen um die Goldene Palme; sein zweites neues Werk in diesem Jahr, nach dem 3-D-Dokumentarfilm „Anselm“.
Dieses Mal verschlägt es den deutschen Regisseur nach Japan. Hirayama (Kōji Yakusho) führt in Tokio ein ebenso einfaches wie von Routine geprägtes Leben. Jeden Morgen erhebt er sich noch vor Sonnenaufgang von seinem Futon, wenig später beginnt seine Schicht: Täglich putzt er die von bekannten Architekten entworfenen öffentlichen Toiletten des Tokyo Toilet Project. Nach der Arbeit geht es dann noch in eine Suppenküche, den Waschsalon oder ein Stadtbad, bevor sich sein Tag wieder dem Ende zuneigt. Gelegentlich bringen unerwartete Begegnungen Abwechslung. Aber eigentlich könnte sich Hirayama seine ganz gewöhnlichen Tage kaum perfekter vorstellen.
Eine zarte Überraschung
Ein Film, so bescheiden wie sein Protagonist. Wer befürchtet hatte, Wim Wenders würde mit allzu vielen Japan-Klischees und westlich-exotisierendem Blick auffallen, darf aufatmen. Der 77-Jährige verleiht seiner Liebe zu Tokio vielmehr sehr behutsam und zurückhaltend Ausdruck, nicht zuletzt durch wundervolle Bilder seines Kameramanns Franz Lustig. Hin und wieder würde man sich vielleicht doch wünschen, das gemeinsam mit Takuma Takasaki verfasste Drehbuch würde ein klein wenig mehr Einblick in die Persönlichkeit des schweigsamen Protagonisten geben. Gleichzeitig drückt Kōji Yakusho allein mit Mimik und Körpersprache meist mehr aus als die meisten anderen Schauspieler im diesjährigen Wettbewerb. Und gemessen daran, dass andere Wenders-Spielfilme zuletzt eher schwer erträglich waren (man denke an „Palermo Shooting“ oder „Every Thing Will Be Fine“), ist „Perfect Days“ eine erfreuliche, geradezu zarte Überraschung.
Nach Wenders, Aki Kaurismäki, dem Türken Nuri Bilge Ceylan („About Dry Grasses“) oder Hirokazu Koreeda mit seinem hinreißenden „Monster“ reihte sich auch der inzwischen 83 Jahre alte Marco Bellocchio in die Liste der Altmeister ein, deren neue Filme in Cannes zu überzeugen wussten. Das Historiendrama „Rapito“, seine achte Wettbewerbsteilnahme, begeisterte dabei neben einer prächtigen Ausstattung vor allem mit einer wahren, spannenden Geschichte über einen Jungen, der 1858 von der katholischen Kirche seiner jüdischen Familie entrissen wird, als herauskommt, dass er als Baby heimlich von seinem Kindermädchen getauft wurde.
Sex und weibliche Lust
Von den älteren Herren schwächelte – zumindest ein klein wenig – lediglich Ken Loach, der „The Old Oak“ als seinen endgültig letzten Film bezeichnet. Einmal mehr knüpft sich der Brite aktuelle gesellschaftspolitische Themen vor, genauer gesagt: den Umgang mit Geflüchteten aus Syrien in Großbritannien und den Niedergang kleiner Ortschaften, in denen früher vor allem Minen- und andere Arbeiter lebten. Die Konflikte, die aus dem Zusammenprall der aus verschiedenen Gründen sozial Abgehängten entstehen, nutzt der zweifache Cannes-Gewinner für eine menschliche Geschichte, die auf Überdramatisierung verzichtet und mit einer gewissen Hoffnung endet. Dass er dabei in altbekannter Manier recht unsubtil ausbuchstabiert, worum es ihm geht, ist keine Überraschung. Welch schlechtes Händchen der 86-Jährige dieses Mal teilweise bei der Auswahl seiner Laiendarsteller bewiesen hat, dagegen schon.
Doch es waren nicht nur die immer gleichen Stammgäste im diesjährigen Programm vertreten. Für Catherine Breillat etwa ist „L’été dernier“ erst der zweite Film im Wettbewerb (nach „Die letzte Mätresse“ 2007), und dieses Mal diente ihr mit „Königin“ ein erst vier Jahre alter dänischer Film als Vorlage. Einmal mehr widmet sich die Französin, die gerade in konservativen Kreisen lange als Skandalregisseurin galt, ihren Stammthemen Sex und weibliche Lust. Auf explizite Aufreger verzichtet sie dieses Mal allerdings bewusst und inszeniert die Geschichte einer Anwältin, die ein Verhältnis mit ihrem jugendlichen Stiefsohn beginnt, eher als intimes, atmosphärisches packendes Drama.
Wer sind die Favoriten?
Zu den erfreulichsten Überraschungen bei der Preisverleihung, die am Samstagabend vor der Weltpremiere des jüngsten Pixar-Films „Elemental“ stattfindet, würde eine Auszeichnung für „Banel et Adama“ gehören. Die senegalesisch-französische Filmemacherin Ramata-Toulaye Sy war in diesem Jahr die einzige Regiedebütantin und ihre Beziehungsgeschichte zwischen Freiheitswillen und Tradition nicht zuletzt visuell ein starkes Stück. Hört man sich an der Croisette unter der internationalen Filmpresse um, gelten allerdings weiterhin Jonathan Glazers Auschwitz-Drama „The Zone of Interest“ und Kaurismäkis schräge Lovestory „Fallen Leaves“ als große Palmen-Favoriten. Und Sandra Hüller, die zwischenzeitlich wieder nach Berlin zurückgereist ist, darf sich für „Anatomie d’une chute“ weiterhin gute Chancen auf den Darstellerinnen-Preis ausrechnen.